Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Charakter zu formen, birgt auch noch ein weiteres Problem. Wie verführerisch ist es eigentlich, ein durch und durch tugendhafter Mensch zu sein? Was soll mich an diesem Ziel überzeugen? Und selbst wenn, ist es überhaupt realistisch? Welcher Mensch kann schon im vollen Umfang von sich selbst sagen, dass er gut ist? Wohl kaum jemand. Vielleicht ist man halbwegs zufrieden mit sich, oder man kann sagen, dass man im Großen und Ganzen im Reinen mit sich ist. Das absolute
Gutsein dagegen gibt es nicht, oder wenn ja, dann unterstellen wir es vielleicht Mahatma Gandhi oder Mutter Teresa im fernen Indien. Menschen, denen wir nie begegnet sind. Am besten ist es, wenn sie überdies schon lange tot sind, wie Jesus, Buddha und andere Heilige. Die Klatschpresse kann bei ihnen jedenfalls kein Doppelleben mehr aufzeigen und keine Widersprüche.
Unverwechselbar gute oder schlechte Menschen gibt es eigentlich nur im Märchen. Im wirklichen Leben dagegen haben selbst die übelsten Gestalten ein paar gute Seiten. Kambodschas großer Massenmörder Pol Pot erschien unwissenden westlichen Besuchern als feiner Mensch. Stalin schrieb zartfühlende Liebesgedichte. Und Hitler war gut zu seinem Hund und Eva Braun.
Wenn es keine absolut guten Menschen gibt, so sollte man über sie auch nicht allzu viel reden. Außerdem haben wir meist gute Gründe, mit zu guten Menschen nicht befreundet zu sein. Wahrscheinlich trinken sie keinen Alkohol, essen keine Tiere, tragen keine Lederschuhe, lügen nicht, reden niemals schlecht über andere und spenden fast ihr ganzes Geld für gute Zwecke. Wäre ich ein reiner Tugendbold, würde ich meine Kinder bestürzen und meine Freunde verlieren. Denn meistens können wir solche Leute nicht leiden. Auch unsere Volkswirtschaft mag sie nicht: Millionenfach multipliziert würden sie unser Wirtschaftssystem vollständig ruinieren. Das Gute in Reinform ist ebenso wenig verführerisch wie das absolut Schlechte.
Ein durch und durch tugendhaftes Leben ist so langweilig, wie ein durch und durch lasterhaftes Leben öde ist. Ganz offensichtlich entsteht der Reiz von Gut und Böse erst aus dem Spannungsverhältnis der beiden. Oder anders gesagt: Unser Leben lebt durch den Kontrast. Auch Aristoteles war sich dieses Problems bewusst. Das gute Leben ist nicht gleich dem perfekten und entsagenden Gutsein, sondern es ist der Versuch, eine gute Balance zu finden: »Wer alles flieht und fürchtet und nirgends standhält, wird feige, wer aber nichts fürchtet und auf alles losgeht, wird tollkühn. Ebenso wird, wer jede Lust genießt und sich
keiner Lust enthält, unmäßig, wer aber jede Lust meidet wie ein ungehobelter Bauer, wird unempfindlich.« Die Kunst des Lebens besteht nicht darin, etwas so Unmenschliches wie das völlige moralische Gutsein erreichen zu wollen, sondern darin, seine Emotionen so zu schulen, dass wir in unserem Leben angemessen reagieren können. Und selbst wenn Aristoteles noch nicht alle Aspekte dessen kannte, was wir heute zu unserem Selbstbild brauchen - wenn er das Bewusstsein noch nicht vom Unterbewusstsein schied und auch die sozialen Rollen nicht ahnte, die wir in unserer heutigen Arbeitswelt spielen -, so erkannte er doch völlig richtig, dass ein gutes Leben darin besteht, mit seinem Selbstbild zufrieden oder gar glücklich zu sein. In Aristoteles’ schöner Formulierung lautet dies: Man sollte, soweit man kann, »mit sich selbst befreundet« sein. 5
Wer sich, ohne sich selbst etwas vorzumachen, aus auch für andere nachvollziehbaren Gründen selbst schätzt, hat beste Voraussetzungen für ein gutes Leben: sich selbst gegenüber und gegenüber anderen. Ein bisschen Wohlstand, ein paar gute Freunde und ein wenig Einfluss dürften dabei nicht schaden. Und wer das Glück hat, nicht arm zu sein, nicht krank, versehrt oder gebrechlich und auch nicht unter missratenen Kindern zu leiden hat - der hat eigentlich alles, was es zum guten Leben braucht. 6
Ein gutes Leben, so das Fazit des Aristoteles, ist deshalb gut, weil es uns langfristig guttut. Es ist alles in allem nachhaltig lustvoll. 7 Diese kluge Einsicht lässt sich leicht unterschreiben: Unser moralisches Handeln soll aus dem Wunsch entspringen, dass man sich selbst als wertvoll empfindet. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass diese Haltung im 18. Jahrhundert in einen Strudel der Kritik geriet, der sie fast in den Abgrund zog. Immanuel Kant, der Aristoteles alles in allem schätzte, vermisste schmerzlich die Verbindlichkeit, die
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