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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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»vernünftigen Gründe« einer solchen Moral. Denn ohne Zweifel: Aristoteles’ Ethik ist eine Ethik des Wollens, nicht des Sollens.
    Ist Aristoteles’ Ethik nicht viel zu privat? Wie überzeuge ich einen
Menschen, der das Gute nicht will? Wo bleiben die Regeln? Und wo die für alle verbindlichen - also vernünftigen - Normen? Es ist das große Unterfangen Kants, die Einsicht des Aristoteles umzuformulieren. Aus dem Grundsatz, dass unser moralisches Handeln aus dem Wunsch entspringen soll, dass man sich selbst als wertvoll empfindet, wird der Grundsatz: dass die moralische Pflicht aus der Tatsache entspringt, dass man sich aufgrund seines Menschseins als wertvoll empfindet. Aus einer Empfehlung zum guten Leben für kluge Zeitgenossen wurde eine Grundlegung der Moral für jeden Menschen.
    Es ist an dieser Stelle nicht der Platz, die Leistung Kants in vollem Umfang zu würdigen. Nicht einmal, um das Kleingedruckte in seiner Ethik mit der des Aristoteles zu vergleichen. Ohne Zweifel hatte Kant eine Schwachstelle erkannt. Aber die aufwändige Reparatur, so der Verdacht, verbessert das Objekt nicht wirklich. Kant machte seine Ethik verbindlicher als jeder - nicht religiöse - Philosoph vor ihm. Und er machte sie logischer. Seine Nachfolger besserten weiter an der Logik herum. Und so wurde die Ethik im 20. Jahrhundert immer logischer, aber leider nicht psychologischer. Man darf sogar sagen: Je mehr Logik die Moral gewann, umso stärker verlor sie ihre psychologische Überzeugungskraft. Denn je logischer eine moralische Regel sein soll, umso mehr geht sie an der natürlichen Unlogik des realen menschlichen Verhaltens vorbei.
    Was auf dem Weg von Aristoteles zu Kant und seinen Nachfolgern auf der Strecke blieb, ist die Motivation. Es ist nicht das Gleiche, wenn ich von Kant höre, dass es guttut, vernunftgemäß zu leben. (Tut es das wirklich?) Oder wenn Aristoteles mich damit ködert, dass Gutes zu tun mir dabei hilft, ein glückliches und erfülltes Leben zu leben. Noch der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts ist daran gescheitert, dass er für den Wert des Kollektiven keine starke individuelle Motivation finden konnte. Was - außer einem erfüllten Leben - soll mich dazu bringen, der Gemeinschaft einen hohen Wert beizumessen? Mich vernünftig
zu fühlen, mein Pflichtgefühl zu bestätigen oder einer Idee zu dienen, das ist - zumindest für die meisten heutigen Menschen in unserem Kulturkreis - zu wenig Zucker im Kuchen.
    Seine Menschenpflicht zu lieben anstatt sein erfülltes Leben klingt vielleicht vernünftig. Aber es bedeutet, sich an alkoholfreiem Bier zu berauschen. Selbstverständlich ist es richtig, dass wir unser Handeln mit unserer Selbstinterpretation vereinbaren müssen. 8 Aber unser Selbstbild braucht meistens doch mehr zum Leben, als nur der Diener einer hohen Aufgabe zu sein. Wir identifizieren uns nicht mit unserer Vernunft, sondern mit unserem vielfältigen und schillernden Selbstverständnis: mit unserer Biografie, unseren Gewohnheiten, unseren Fähigkeiten und Unfähigkeiten, unseren Wünschen und Ängsten, unseren Neigungen und Abneigungen und unseren Erfolgen und Misserfolgen. Und unser Weltbild ist selten mehr als ein ins Leben gestrecktes Selbstbild.
    Doch wenn es richtig ist, dass unser Selbstbild diffus ist, widersprüchlich und provisorisch, wie sollte es unsere Moral dann nicht sein? Wie uns die Hirnforschung zeigt, verteilt sich unser moralisches Empfinden auf ganz unterschiedliche Areale im Gehirn. Manches davon ist bewusst, anderes unbewusst. Manches davon scheint miteinander zu harmonieren, anderes nicht. Die Arbeit unseres Gehirns, all dies in einem Selbstbild zu empfinden, zu verstehen und zum Ausgleich zu bringen, ist eine unabschließbare Aufgabe.
     
    Menschen sind Lebewesen, die auf die Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer angewiesen sind. Um Anerkennung zu bekommen, sind wir oft altruistisch. Unser Gehirn belohnt uns dafür, wir fühlen uns »gut«. Aus der Summe der Erfahrungen, die wir auf diese und andere Weise positiv oder negativ machen, formen wir unser Selbstbild. Die größte Gefahr für dieses Selbstbild ist der Anerkennungsverlust, denn er gefährdet unser Selbstwertgefühl. Deshalb sollten wir so leben, dass es unserem Selbstwertgefühl - und damit dem der anderen - guttut.

    In einer traditionellen philosophischen Ethik könnte an dieser Stelle nun Schluss sein. Sind alle Probleme damit gelöst? Eher nicht. Ich fürchte, jetzt fangen sie erst richtig an. Zuvor jedoch

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