Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
sollten wir einen Blick auf die Fülle der Kulturen werfen. Wie leben Menschen eigentlich tatsächlich seit Jahrtausenden miteinander? Und was verbindet uns alle? Gibt es eine Moral der Anthropologen und Völkerkundler?
• Die Katze des Yogis. Ist Moral überall gleich?
Die Katze des Yogis
Ist Moral überall gleich?
»Ein Guru hielt mit seinen Jüngern täglich eine Abendmeditation. Als eines Tages die Hauskatze während dieser Zeit in den Meditationsraum lief und störte, ordnete er an, sie solle während dieser Zeit draußen festgebunden werden. So konnte man von da an wieder ungestört meditieren. Aber die Zeit verging. Der Guru starb und bekam einen Nachfolger. Dieser hielt sich streng an die Tradition, dass während der Abendmeditation draußen ›eine Katze‹ angebunden sein müsse. Als schließlich auch die Katze starb, wurde eine neue Katze angeschafft, um sie während der Abendmeditation anbinden zu können. Weil die einfachen Leute den Sinn dieser Maßnahme nicht verstanden, traten Theologen auf den Plan und schrieben ein zweibändiges Werk mit vielen Fußnoten über die Heilsnotwendigkeit einer angebundenen Katze während der Abendmeditation. Mit der Zeit jedoch kam die Abendmeditation selbst ganz außer Gebrauch; niemand mehr interessierte sich dafür. Aber mit größter Treue wurde wenigstens der Ritus des Katzenanbindens beibehalten.« 1
Diese hübsche Geschichte des indischen Theologen Francis X. D’Sa, Leiter des »Institute for the Study of Religion« in der westindischen Millionenstadt Pune, bringt es auf den Punkt: Wie viel von dem, was die Moral und Religion der Völker und Kulturen voneinander unterscheidet, könnte nicht mehr sein als eine angebundene Katze: das Ergebnis von Zufällen, überlebten Ideen und langwierigen Missverständnissen?
Selbst da, wo solche Regeln nicht zufällig sind, müssen sie ihren
Ursprung nicht in völlig verschiedenen Moralvorstellungen haben. Wie häufig dienten sie nur der Praxis der alltäglichen Lebensbewältigung? Nicht wenige religiöse und moralische Regeln haben ihren Ursprung in konkreten Problemlösungen. Dass das Judentum und der Islam Schweinefleisch als »unrein« ansehen, ist kein sinnloses religiöses Dogma. Vielmehr war es ein einstmals sinnvolles Gebot der semitischen Völker, ihre Wirtschaft lieber auf die ökonomisch und hygienisch sinnvollere Schafzucht zu gründen. Auch die Ehemoral des Juden- und des Christentums war einst eine kluge Idee, um die Ausbreitung von Seuchen einzudämmen. Zudem half sie, die Erbfolge klarer zu regeln. Der gegenwärtig heftig diskutierte Zölibat der katholischen Kirche mit seinem Dogma aus dem Jahr 1022 hatte eigentlich eine ganz profane Funktion: Man wollte verhindern, dass Priester Kinder bekommen und ihnen etwas vererben. Nicht ohne Grund fürchtete man, dass die Kirche dadurch Stück für Stück enteignet werden könnte. Und dass christliche Kirchen sonntags in die Morgenstille läuten, ist keine Anordnung Jesu, sondern das skurrile Überbleibsel einer Zeit, in der niemand eine Uhr hatte.
Vieles von dem, was Völker und Kulturen trennt, hat seinen Ursprung offensichtlich nicht in einer völlig anderen Sicht der Moral. Ließe man all unsere Riten und Gebräuche, unsere zufälligen, umstandsbedingten und historischen Kriterien für richtig und falsch beiseite, wären sich die Menschen dann nicht im Kern ihrer moralischen Vorstellungen sehr nahe? 2
Wo auch immer es Menschen gibt, gibt es stark empfundene Verpflichtungen gegenüber dem Selbstbild. Und überall unterscheiden Menschen das, was sie achten, von dem, was sie ächten. Das Gute wird geschätzt, das Schlechte verurteilt. In jeder Kultur gibt es Mitgefühl und auch die Idee der Gerechtigkeit. Es gibt Normen, und es gibt Strafen für denjenigen, der gegen sie verstößt. Es gibt Erlaubnisse, Verbote und Tabus. Fürsorge, Barmherzigkeit, Ehrlichkeit und Friedfertigkeit werden gepriesen, Aggressionen, Mord, Stehlen, Betrügen und Lügen verdammt. Und
ähnliche moralische Probleme werden in unterschiedlichen Kulturen ziemlich häufig ähnlich gelöst. Die großen Abweichungen sind die Ausnahme. Haben wir es also überall mit den gleichen Konstanten zu tun, nur in unterschiedlicher Verkleidung?
Vielleicht kann man es so sehen. Vielleicht aber auch ganz anders. Denn was den einen anthropologische Konstanten sind, sind den anderen ziemlich austauschbare Variablen. Einer der radikalsten Vertreter dieser Sicht war ein finnischer Anthropologe. Ein sehr
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