Die Lady in Weiß
den schweren Schal losgeworden war, warf sie ihr Haar zurück, damit der kühle Abendwind sie erfrischen konnte. Die Aufmerksamkeit, die ihr helles Haar bei den Seeleuten und den männlichen Reisenden erregte, bemerkte sie nicht. „Deshalb habe ich mich ja verkleidet.“
Tomaso war noch nicht zufrieden. Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. „Aber das verstehe ich nicht. Warum eine Verkleidung? Sie sind eine große englische Lady. Steckt ein Scherz dahinter, den ich nicht verstehe?“
„Damit sind wir schon zwei, Tomaso.“ Jeremiah packte sie genauso grob am Arm wie zuvor der Italiener. „Also los, Liebste. Ich bitte um eine Erklärung.“
Sie ließ sich friedlich von ihm nach unten in die kleine Kabine führen, und als er die Tür verschloss und die Lampe anzündete, stand sie geduldig mit gefalteten Händen da und wartete. Sie hatte nichts zu verbergen und nichts zu fürchten. Nur die allerbesten Absichten hatten sie hierhergeführt.
Aber als Jeremiah sich zu ihr umdrehte, erkannte sie an seinen Augen, dass er nicht einverstanden war.
„Sag jetzt nichts, Jeremiah, nicht ehe du weißt...“
„Ich rede, wann es mir passt, Caro, und nichts, was du sagst, wird daran etwas ändern. “ Er ließ den Blick über ihr Kleid gleiten. Das enge Mieder betonte ihre Taille und ihre Hüften,
ganz anders als die modischen Chemisenkleider, die sie sonst trug. „Was, zum Teufel, tust du hier in diesem Aufzug?“
„In diesem Aufzug?“ Sie schob ihre Röcke beiseite und sah an sich hinunter, als hätte sie vergessen, wie sie aussah. „Das ist ganz einfach. Ich wollte an Bord gehen, ohne Aufsehen zu erregen. Ich habe mich so angezogen, um genau wie alle anderen auszusehen. Ich habe mich an das erinnert, was du in Portsmouth zu mir gesagt hast.“
„Um Himmels willen, Caro, merkst du nicht den Unterschied?“
„Den Unterschied?“, wiederholte sie verwirrt und blickte wieder an sich hinunter. „Ich nehme an, dies hier sieht schlimmer aus als die Sachen, die du mir damals gekauft hast. Frederick wäre absolut entsetzt, wenn er mich so sehen würde. Deswegen habe ich eines meiner eigenen Kleider mitgebracht, für den Tag, an dem wir ihn befreien. Eines aus weißem Mull - oh, Jeremiah, ich habe mein Bündel an Deck liegenlassen!“
„Was immer du darin hattest, jetzt ist es weg“, sagte er. „Du bist zu sehr Dame, um deine Mitreisenden zu bestehlen, aber glaube mir, die anderen haben solche Skrupel nicht.“
In der Hoffnung, ihre Sachen zurückzubekommen, wollte sie an ihm Vorbeigehen. „Aber wenn ich darum bitte ...“
„Du hast es noch immer nicht verstanden, nicht wahr?“ Er stellte sich ihr in den Weg. „Der Unterschied liegt nicht in den Lumpen, die du trägst. Aber du bist hier unter Fremden, und ehe du dich auch nur umschaust, ist dir etwas zugestoßen. Was denkst du, was du von den Leuten da oben zu erwarten gehabt hättest, wenn ich dir nicht zu Hilfe gekommen wäre?“
Jeremiah konnte es sich nur zu gut vorstellen, und der Gedanke, was ihr durch ihren Leichtsinn alles hätte zustoßen können, gab seinem Ärger neue Nahrung.
„Verdammt, Caro, dies ist keine Maskerade, die zu deinem Vergnügen stattfindet. Warum bist du nicht in Neapel geblieben? Dann wüsste ich wenigstens, dass du in Sicherheit bist!“
„Oh ja, Neapel ist so ein schöner, sicherer Ort!“ Jetzt war auch Caro wütend. „Hast du je daran gedacht, was einer englischen Lady passieren kann, wenn Bonapartes Armee zurückkommt? Was glaubst du denn, warum Fredericks Mutter so bereitwillig mit mir Frieden schließt, damit sie nach England zurückkehren kann? Sie hat mir erzählt, dass ..."
„Warum hängst du auf einmal so sehr an einer Frau, die dich verachtet? Wie kannst du ihr vertrauen?“
„Wenigstens traut sie mir zu, meine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen zu können! “
„Versuche nicht, mit mir zu streiten, Caro! “
„Wenn du aufhörst, mir Befehle zu geben!“ Wütend holte Caro zum Schlag aus, doch Jeremiah fing ihre Hand ab, ehe sie seine Wange berührt hatte.
„Hör auf, Caro“, sagte er im Befehlston. „Oder soll das Pack da oben glauben, dass du den Verstand verloren hast?“ „Es ist mir egal, was sie glauben!“ Mit einem verzweifelten Aufschrei versuchte sie, ihren Arm zu befreien, doch er hielt sie nur noch fester. Er war so viel größer und kräftiger als sie, und in diesem Augenblick hasste sie ihn dafür. „Und dich interessiert es auch nicht. Weder, was diese Leute denken,
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