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Die Lady mit dem Bogen

Die Lady mit dem Bogen

Titel: Die Lady mit dem Bogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyn Kelley
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starrte wieder zur Decke hinauf, und Mallory war nicht sicher, ob er Saxons Frage gehört hatte. Er murmelte noch etwas vor sich hin und schloss die Augen.
    »Wer?«, wiederholte Saxon.
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie, von dem Wunsch beseelt, sie könnte ihm etwas Trost spenden.
    Vater Hilaire, der mit den Gebeten angefangen hatte, verstummte, als Sir Godard sagte: »Vergebt mir, Vater, aber ich habe gesündigt. Seit meiner letzten Beichte sind vier Monate vergangen.«
    »Mylady, Saxon.« Der Priester blickte angelegentlich zur Tür.
    Ehe sie hinausgingen, um dem Sterbenden die Beichte zu ermöglichen, sagte Sir Godard: »Vater, ich wollte gegen das fünfte Gebot verstoßen.«
    »›Du sollst nicht töten‹«, stieß Mallory hervor.
    »Im Kampf wird vielfach dagegen verstoßen, wenn man sich verteidigen muss«, lautete die Antwort des Priesters.
    »Nicht im Kampf«, widersprach Sir Godard. »Es war hier in Poitiers.«
    Ohne Rücksicht auf die schockierte Miene des Priesters trat Saxon wieder ans Bett. Es kümmerte ihn nicht, wenn er die letzte Beichte störte. Er musste erfahren, was sein Bruder auf dem Herzen hatte.
    Ehe er fragen konnte, fuhr Godard mit immer schwächerer Stimme und immer zorniger fort: »Sie hat ihr Leben verwirkt. Sie betrog zwei Ehemänner und hetzte ihre Söhne gegen den Vater auf. Ich versuchte, meinen Befehl auszuführen und sie zu töten, doch wurde sie von dieser Schlampe gerettet, die meinen Bruder verhexte. Ich hätte …«, er rang nach Atem, »… hätte … die zuerst umbringen sollen. Ich versuchte es und schickte jemanden nach ihr aus. Der gab sich als …« Er hustete, und fuhr fort, »… er gab sich als Bote des französischen Königs aus. Er versagte.«
    Mallory hielt sich den Mund zu, um ihren Schreckensschrei zu ersticken. Ihr Verdacht – und jener Saxons – hatte sich bewahrheitet. Bertram de Paris war der Schütze, der den Pfeil in ihr Gemach abgeschossen hatte. War die Botschaft in der Hoffnung daran befestigt worden, man würde sie im Falle eines Fehlschlages zur Flucht bewegen können? Nicht, weil sie die Königin beschützte, sondern weil Godard den Hof entzweien und gleichzeitig seinen Bruder treffen wollte. Sie hatte nicht geahnt, dass Saxons Bruder – sein Zwillingsbruder – so bösartig sein konnte.
    Godards Blick war auf Saxon gerichtet, ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Du hattest mich nie im Verdacht, oder? Schließlich schaffte ich es doch, dich in irgendwas zu übertreffen, Bruder. Immer dachtest du, du wärest klüger als ich, aber du hast nie geahnt, dass …«
    Sein Kopf sank leblos zur Seite. Vater Hilaire fuhr mit bebender Stimme in seinen Gebeten fort.
    Saxon schritt an der entsetzten Mallory vorüber. Er ging hinaus, ging immer weiter, ohne darauf zu achten, wohin, ohne einen Gedanken an ein Ziel zu verschwenden. Er musste fort, fort von den letzten Worten seines Bruders.
     
    Saxon stand verlassen im Mondschein und wartete wie schon den ganzen Tag auf Erlösung von Schmerz, Kummer und Wut; Gefühle, die in ihm als konfuse, misstönende Melodie einen Strudel bildeten, in dem er zu versinken drohte.
    Am Nachmittag hatte das helle Sonnenlicht nicht vermocht, den Aufruhr in seiner Brust zu besänftigen, während er die Überführung der sterblichen Hülle seines Bruders in die Kapelle auf dem Familiensitz veranlasste. Er hatte gehofft, diese Aufgabe würde ihm Gelegenheit geben, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Die Gebete des Priesters an Godards Totenbett hatten Unruhe und Gereiztheit in ihm hinterlassen, als wäre er einem einschlagenden Blitz zu nahe gekommen.
    Auf den Vorschlag des Priesters, Saxon solle noch einmal zu einem letzten Lebewohl zurückkommen, war ihm keine andere Antwort eingefallen als: »Ich wusste es nicht.«
    Was hatte er nicht gewusst? Es war eine Frage, die er nicht näher untersuchen wollte. Hätte er es getan, wären neue Fragen aufgetaucht, die brennen würden wie Alkohol auf einer offenen Wunde.
    So war er aus dem Palast gestürmt und lief nun den Fluss entlang. Das muntere Vogelgezwitscher am Wasser und das Lachen eines heimlichen Liebespaares hatten nicht vermocht, die Erinnerung an den Hass im Blick seines Bruders zu lindern. Auch in der Finsternis der Höhle, in der Mallory nach Malcoeur gesucht hatte, hatte er dem Echo der triumphierenden Worte seines Bruders nicht entkommen können. Ebenso konnte die Musik ihn nicht beruhigen, da jeder Ton, den er anschlug, sofort erstarb, als wolle er sich den

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