Die Lady mit dem Bogen
durchschaute, lächelte. Ruby wollte wissen, ob Saxon ihr beim Auskleiden helfen würde. Da sie nicht verraten wollte, dass Saxon ihr heute bereits beim Aus- und Ankleiden geholfen hatte, sagte sie: »Geh nur. Ich werde …«
Eine Frau schrie laut auf, und ihr Schrei hallte seltsam in den Korridoren vor der Tür wider wie auch durch das offene Fenster. Ruby stieß einen leisen Schrei aus, und Mallory griff nach Bogen und Köcher und zog einen Pfeil hervor, bereit, ihn anzulegen, ehe sie die Tür erreichte.
Sie rannte hinaus auf den Gang. Dort verharrte sie und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Da schrie die Frau wieder, und sie lief nach links zur Treppe. Der Schrei war aus dem unteren Stockwerk gekommen. Eine Tür wurde so rasch geöffnet, dass sie ihr fast ins Gesicht schlug; sie wich zurück und rannte die Treppe hinunter.
Jemand rief ihr etwas nach, aber sie blieb nicht stehen, um zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, wer geschrien hatte und warum.
Am Fuß der Treppe prallte sie mit jemandem zusammen, der nach oben wollte und sie gegen den steinernen Treppenpfosten stieß. Schmerz durchschoss ihre Hüfte, doch ignorierte sie ihn, als sie sah, dass Saxon dem Mann auf die Beine half, mit dem sie zusammengestoßen war. Es war de Mauzé, einer der königlichen Gardisten.
De Mauzé fluchte, als er die Stufen hinaufstolperte. Ohne ihn zu beachten, lief sie in die Richtung der Schreie, lief auch weiter, als sie Schritte hinter sich hörte. Sie hoffte, Saxon hätte sich nicht de Mauzé angeschlossen, um die Königin zu schützen. Sie konnte seine Hilfe bei dem, was immer sie erwartete, gut brauchen.
Die Frau schrie wieder auf, diesmal eindeutig vor Schmerz.
Mallory blieb vor einer offenen Tür stehen und sah eine kniende, vornübergebeugte Frau. Mit der Spitze ihres Bogens schob sie langsam die Tür auf und spähte in den Raum. Die Frau war allein. Dennoch behielt sie den Bogen in der Hand, als sie sich der Weinenden näherte.
Es war Lady Elita, wie sie verdutzt feststellte, doch das tränennasse Gesicht, das zu ihr aufblickte, erinnerte kaum an die elegante Hofdame, die sie kannte. Die Augen waren rot umrändert, die Wangen fleckig vor salzigen Tränen. Ihre Lippen bebten, als sie mit dem Ärmel unter ihrer Nase entlangfuhr.
»Was ist passiert?«, fragte Saxon.
»Ich weiß es nicht.« Mallory lehnte den Bogen neben die Tür und nahm den Köcher ab, nicht ohne den Pfeil hineinzutun, ehe sie zu der zusammengesunkenen, von Schluchzern geschüttelten Lady Elita ging.
Saxon schloss die Tür, während Mallory unbeholfen den Arm um die blonde Schöne legte und ihr tröstend zuredete. Es kam selten vor, dass sie jemandem Trost spendete, am allerwenigsten sich selbst. Sie hatte es versucht, doch war es für sie nicht einfach, nachdem sie es nicht geschafft hatte, ihre Mutter zu trösten, wenn ihr Vater sie gedemütigt hatte. So wie Lady Elita versucht hatte, sie zu demütigen.
Dies alles aber war nun unwichtig, während Lady Elita haltlos schluchzte. Mallory redete leise und voller Mitgefühl auf die blonde Frau ein und riet ihr, tief durchzuatmen und sich zu beruhigen.
Als sie sah, dass Saxon einen Schritt auf sie zuging, runzelte sie die Stirn und deutete mit dem Kopf zur Tür. Jemand hatte Lady Elitas Tränen verschuldet, und falls dieser Jemand zurückkam, mussten sie gewappnet sein. Während Saxon Wache hielt, musste sie herausfinden, was die Dame dermaßen aus der Fassung gebracht hatte, dass ihre Schreie im ganzen Palast zu hören waren.
»Mylady«, sagte sie leise, wie schon zuvor, »Ihr müsst langsamer atmen. Dann hört das Weinen von selbst auf.«
Lady Elita begrub ihr Gesicht in Mallorys Schoß. Seufzend strich sie über das blonde Haar, als hätte sie es mit einem Kind zu tun.
»Er verlässt mich«, murmelte Lady Elita.
»Er?«
Mallory hörte nur aufrichtige Besorgnis aus Saxons Ton heraus, und sie vermutete, dass auch Lady Elita dies tat, da sie den Kopf hob und sie beide zum ersten Mal direkt anschaute.
»Philippe«, flüsterte Lady Elita.
»Comte du Fresne?«, fragte Mallory.
Lady Elita bejahte mit heftigem Nicken. »Er sagte, dass er mich liebt, nun aber verlässt er mich, ohne mir das versprochene Geschmeide zu geben.« Ihre Miene verhärtete sich, und in Mallory kam das ungute Gefühl auf, dass dieses Versäumnis des Comte der eigentliche Grund für Elitas Tränen war. »Er ist vom Hof gegangen, ohne mir auch nur irgendetwas zu geben.«
»Er ist fort?«, fragte Saxon,
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