Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
nicht anders, als dir folgenden Ölzweig anzubieten. Wahrscheinlich bist du im Augenblick zu verstört, um weit in die Zukunft zu denken, ich für mein Teil mache mir jedoch große Sorgen über deine Situation. Ich kann dir folgendes Angebot machen – es ist nichts Großartiges oder besonders Elegantes, doch du hättest wenigstens ein Dach über dem Kopf, einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen, wenn deine Zeit in London um ist.
Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich eine ältere Tante, die in Crawley wohnt. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie alt sie ist, wenn ich, deine Tante, sie so bezeichne. Sie lebt in einem behaglichen Cottage nicht weit vom Dorf entfernt. Ich habe sie seit mehreren Monaten nicht gesehen, doch an Michaeli war sie noch in bester Verfassung, körperlich ebenso wie geistig. Ich bin zuversichtlich, dass sie dich aufnehmen würde und dass ihr beide gut miteinander auskommt, ja ich wage sogar zu sagen, dass sie sich über etwas Gesellschaft freuen würde. Ihr eigener, erwachsener Sohn lebt in Manchester und besucht sie, soweit ich weiß, nur sehr selten. Ich werde ihr schreiben und ihr von dir erzählen.
Wenn sich etwas ergibt, das dieses Arrangement verhindert, werde ich einen Weg finden, es dir mitzuteilen. Andernfalls, meine Liebe, muss dies mein letzter Brief an dich bleiben, zumindest für die absehbare Zukunft. Schon der Gedanke daran macht mich tief traurig. Sei versichert, dass ich immer an dich denke und dich in meine Gebete einschließe.
Deine dich liebende Tante
Charlotte wischte sich mit der freien Hand die Tränen ab. Dann faltete sie den Brief rasch zusammen und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides. Entschlossen setzte sie ein fröhliches Gesicht auf und ging wieder ins Haus und in den Arbeitsraum.
»Woran arbeitest du denn da, Becky?«, fragte sie und setzte sich neben das junge Mädchen an einen Tisch, auf dem ein großes Stück Stoff lag.
»Das wird eine Wickeldecke.«
Sie betrachtete das quadratische Stück grobe Baumwolle. »Wie hübsch. Wird es rechtzeitig fertig werden?«
»Oh, es ist nicht für mein Kind – glaube ich jedenfalls.«
»Ach?«
»So wie du hier Strümpfe für die Mädchen stopfst, nähe ich Decken für die Findelkinder nebenan.«
Charlotte schaute in die Richtung, in die das Mädchen gedeutet hatte.
»Wusstest du denn nichts von der Station für Findelkinder?«, fragte Becky.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon gefragt, was wohl in dem anderen Flügel ist.«
»Und was hast du dir gedacht, passiert mit den Kindern, die hier zur Welt kommen?« Bess war mit einer Teetasse in der Hand an den Tisch getreten. Ihre Frage klang schroff.
»Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht …«
»Sie behalten die Kinder hier, bis sie entwöhnt sind«, erklärte Becky. »Dann werden sie in das große Findelhaus in der Guilford Street gebracht.«
»Nehmen denn nicht manche der Mädchen ihre Kinder mit zu sich nach Hause?«
»Hast du das etwa vor?«, fragte Bess skeptisch, während sie sich ihr gegenüber setzte.
»Nein. Nicht nach Hause. Ich weiß nicht … ich weiß noch nicht, wohin.«
Zwei weitere Frauen kamen zusammen an den Tisch, die große flachsblonde Sally und die kleine rothaarige Mae. Sie setzten sich rechts und links neben Charlotte.
»Nun, ich weiß jedenfalls, wo ich sein werde«, sagte Becky. »Wieder im Arbeitshaus, sobald meine Zeit gekommen ist.«
»Aber … was ist mit …?«
Bess unterbrach sie: »Lass dir ja nicht einfallen, über sie oder irgendeine von uns zu urteilen.«
»Das wollte ich nicht. Ich bin nur überrascht.«
»Manche von uns haben keine andere Wahl«, sagte Sally ruhig, die Augen auf ihren Tee gerichtet.
»Aber … das eigene Kind der Fürsorge von Fremden zu überlassen. Das könnte ich nie.«
»Da sei mal nicht so sicher«, meinte Bess. »Man weiß nie, was ein Mensch aus Liebe oder für Geld fertigbringt.«
»Oder um Leib und Seele zusammenzuhalten«, fügte Mae hinzu.
»Meine Mutter kann kaum meine Brüder und Schwestern ernähren«, sagte Becky. »Sie kann mit Sicherheit nicht noch ein Maul mehr stopfen.«
»Wie alt bist du, Becky?«, fragte Charlotte.
»Vierzehn.«
»So jung!«
Becky zuckte die Achseln. »Meine Mama war genauso alt, als sie mich bekam.«
»Und du, Sally«, fragte Charlotte, »was wirst du tun?«
»Mein Junge ist schon vor zwei Monaten auf die Welt gekommen. Ich bin Amme im Findelhaus. Wusstest du das nicht?«
»Nein, ich
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