Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
gut, danke. Und Ihnen?«
Sie nickte. »Sind Sie immer so spät noch hier?«
»Ja. Wenn auch nicht immer wach, Gott sei Dank. Ich habe eine kleine Wohnung im oberen Stockwerk. Auf diese Weise sind die Nachtwachen weniger ermüdend.«
»Sie tun sehr viel für uns.«
Er sah sie scharf an, als wäge er die Aufrichtigkeit ihrer Worte ab.
»Wirklich.« Sie lächelte ihn an. »Es ist überaus tröstlich zu wissen, dass ein Arzt im Haus ist.«
Jetzt lächelte er ebenfalls. »Auch wenn ich dieser Arzt bin?«
»Ja. Ich habe über den anderen Arzt Dinge gehört, die nicht besonders vertrauenerweckend sind.« Sie sprach leichthin, doch sie sah, wie seine Augen sich weiteten und er die Lippen zusammenpresste.
»Was meinen Sie damit? Warten Sie. Gehen wir hinauf in Mrs Moorlings Büro, dort werden wir niemand stören.«
»Gern.« Sie folgte ihm in das Büro der Hausdame hinter dem Arbeitsraum.
»Was wollten Sie sagen?«, fragte er.
»Nun, die Mädchen hier scheinen ihm nicht zu vertrauen, ja, sie haben sogar Angst vor ihm.«
»Angst? Das ist doch absurd. Er ist sicherlich nicht vollkommen, aber so schlimm ist er ganz bestimmt auch wieder nicht.«
»Es tut mir leid, ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat.«
»Ich rate Ihnen, in Zukunft nicht mehr auf ein bloßes Gerücht hin den Ruf eines Mannes zu beschmutzen.«
Sie sah ihn überrascht an. Die Heftigkeit seiner Reaktion schien ihr übertrieben und sie fragte sich, ob hier mehr im Spiel war als Loyalität unter Kollegen. »Sie haben völlig recht. Aber ich hatte keinen Grund, den Mädchen nicht zu glauben. Ich habe selbst gesehen, wie eines von ihnen zitterte, als sie von Dr. Preston kam.«
»Preston?«, fragte er, sichtlich überrascht.
»Ja.« Wen hatte sie seiner Meinung nach gemeint?
Er zögerte, den Blick auf seine Schuhe gerichtet.
Charlotte fühlte sich gedrängt weiterzusprechen. »Verzeihen Sie mir – sind Sie beide befreundet?«
»Wir sind Kollegen. Meinen Sie, dass er sich seinen Patientinnen gegenüber … unschicklich verhält?«
»Ja. Zumindest demütigt er sie.«
»Nun, das ist kein Verbrechen. Es ist nicht einfach, in solchen Situationen die richtige Distanz zu wahren. Was das andere betrifft … ich nehme an, es ist nur Gerede, aber wenn Sie persönlich irgendwelche, wie auch immer geartete Probleme mit Dr. Preston haben sollten, lassen Sie es mich wissen.«
»Danke. Das werde ich tun.«
Die Anspannung in seinem Gesicht ließ nach. Einen Augenblick standen sie in verlegenem Schweigen nebeneinander. Charlotte überlegte schon, wie sie sich zurückziehen konnte, als sie plötzlich sah, dass seine Mundwinkel sich zu einem jungenhaften Lächeln hoben.
»Und was sagen sie über mich?«
Sie lächelte zurück und sagte dann keck: »Oh, Sie sind der Schlimmste von allen. Eis, sagen sie. Kühl. Unpersönlich. Eines der Mädchen verglich Ihr Verhalten am Krankenbett mit dem eines Mannes, der Fische ausnimmt.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe.«
Sie betrachtete ihn einen Augenblick und sagte dann zögernd: »Sie wirken so verändert. Aber vielleicht ist das ganz normal nach all den Jahren.«
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe – Tod, bemitleidenswerte Geschöpfe, die ihr Liebstes verloren haben …« Er hielt inne und schien sich in Gedanken zu verlieren, die zu düster waren, um sie daran teilhaben zu lassen. Sie nahm an, dass er hier nicht nur von seinen Pflichten als Arzt sprach, sondern von weit persönlicheren Verlusten.
»Mag sein«, fuhr er fort, »vielleicht bin ich wirklich zurückhaltender geworden, vielleicht auch härter.«
»Kälter«, fügte sie hinzu, »distanzierter.«
»Es gibt Schlimmeres.« Er sah ihr unvermittelt in die Augen. Charlotte schlug die Augen nieder.
»Miss Lamb, ich wollte nicht … ich sprach nicht von Ihnen!«
Plötzlich war er wieder der Alte. Der Mr Taylor von früher, der sie neckte, aber auch mit einem Wort beruhigen und trösten konnte.
Charlotte hielt den Blick gesenkt. »Ich gebe zu, als ich Sie zum ersten Mal hier sah, schämte ich mich furchtbar.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Ich glaube, jetzt, nachdem ich den größten Schreck überwunden habe, werde ich froh sein, ein freundliches Gesicht um mich zu haben.«
»Ein kaltes Gesicht, meinen Sie.«
»Eines, das bei näherer Bekanntschaft gewinnt. Oder, wie in unserem Fall, mit dem Auffrischen der Bekanntschaft.«
»Das freut mich zu
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