Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
wunderschön. Dichtes, dunkles Haar, ein strahlendes Lächeln, zarte Gesichtszüge, weiße Spitze und eine Kamee am feinen Hals. Kleidung und Pose waren durchaus traditionell, dennoch war etwas außergewöhnlich Reizvolles, fast Exotisches an der Frau. Charlotte nahm an, es lag an dem breiten Lächeln, das bei solchen formalen Porträts gewöhnlich für unpassend erachtet wurde. Der Künstler hatte ein fast spitzbübisches Leuchten in Mrs Taylors dunklen Augen eingefangen, das auf ein geheimes Glück deutete. Ob sie jetzt wohl zu Hause saß und ihren Ehemann schmerzlich vermisste?
Plötzlich kam Charlotte ihre verfängliche Situation wieder in den Sinn und sie stellte das Bild hastig wieder an seinen Platz. Ich habe nicht das Recht, hier herumzustöbern . Ohne weiteren Zwischenfall verließ sie den Raum, huschte die steile Treppe hinunter und in ihr eigenes Zimmer. Mit einem erleichterten Seufzer schlüpfte sie ins Bett, das ihr nie verlockender erschienen war.
Am nächsten Morgen am Nähtisch fragte Charlotte in, wie sie hoffte, beiläufigem Ton: »Hat eine von euch eigentlich schon einmal Dr. Taylors Frau gesehen?«
»Ich nicht«, meinte Sally.
Mae zuckte die Achseln. »Ich auch nicht.«
»Vielleicht ist er gar nicht verheiratet«, sagte Bess, »und behauptet es nur, damit wir ihm vertrauen.«
»Wohl eher aus einem anderen Grund, damit du dich ihm nämlich nicht an den Hals wirfst«, neckte Sally sie.
»Nun, nach allem, was man hört, hat Dr. Preston auch eine Frau, aber deswegen vertraue ich ihm trotzdem nicht«, sagte Mae.
»Dr. Taylor wirkt jedenfalls nicht wie ein verheirateter Mann. Er ist ja die ganze Zeit hier und so gut wie nie zu Hause«, sinnierte Sally.
Bess schnaubte. »Das ist doch mit den meisten Männern so. Sie sind die ganze Zeit weg. Kommen und gehen, wie es ihnen passt.«
»Ich sage trotzdem, dass er keine Frau hat. Er sieht immer so ungepflegt aus. Er könnte wirklich eine Frau gebrauchen, die ihn anständig anzieht«, grinste Mae.
»Seien Sie doch nicht so albern, meine Damen.« Gibbs war an ihren Tisch getreten. »Ich habe Mrs Taylor mit eigenen Augen gesehen. Und zwar mehr als einmal.«
»Tatsächlich, Miss Gibbs?«, fragte Charlotte.
»Ja. Dr. Taylor hat sie einmal mit hierher gebracht, um ihr das Haus zu zeigen. Eine sehr feine Dame, dem Aussehen nach zu urteilen. Sehr hübsch, mit dem prächtigsten Federhut, den ich je gesehen habe. Haare so schwarz wie die Nacht und Augen, die wie Sterne funkeln. Sie schien förmlich zu glühen und wirkte im Übrigen, als läse sie ihrem Mann jedes Wort von den Lippen ab. Ich habe noch nie zwei so verliebte Menschen gesehen.«
»Meine Güte, Miss Gibbs, und ich habe noch nie gehört, dass Sie so viel auf einmal sprechen«, sagte Charlotte mit einem freundlichen Lächeln.
Miss Gibbs runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippen. »Nun ja, ich konnte doch nicht dabeistehen, ohne Ihren Irrtum zu berichtigen. Nicht, wenn es um die Frau unseres Dr. Taylor geht.«
»Wie lange ist es denn her«, fragte Charlotte, »dass Sie Mrs Taylor gesehen haben, meine ich?«
»Ach, das weiß ich nicht mehr so genau. Ein paar Monate … vielleicht ein halbes Jahr.«
10
In der gewöhnlichen Seidenblume, in dem weißen Saft, der aus den Stängeln und Blättern austritt, wenn sie gebrochen werden … geronnene Klumpen, wie Blut, sobald sie der Luft ausgesetzt sind.
Jack Sanders, The Secrets of Wildflowers
Zwei Wochen, nachdem sie angefangen hatte, sich um den kleinen Findling zu kümmern, saß Charlotte in der Abenddämmerung auf einer Bank im Garten des Heims. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht.
Plötzlich merkte sie, dass Dr. Taylor neben ihr stand. Als sie die nassen Augen zu ihm aufhob, erschrak er.
»Was ist passiert?«
»Oh Dr. Taylor! Wenn Sie nur schon früher gekommen wären! Dr. Preston meinte, man könne nichts mehr tun, aber wenn Sie hier gewesen wären … Sie hätten es wenigstens versucht, das weiß ich!«
»Beruhigen Sie sich doch, bitte. Was ist denn geschehen?«
»Der Kleine … er ist gestorben.«
»Der, den Sie versorgt haben?«
Charlotte nickte und wischte sich mit dem Taschentuch über die verweinten Augen.
»Es tut mir so leid.« Er seufzte entmutigt. »Zu meinem Kummer kommt so etwas häufiger, als ich ertragen kann … oder gar erklären.«
»Dr. Preston sagte einfach: ›Gewöhnen Sie sich daran. Ich habe mich längst daran gewöhnt.‹«
»Leider ist das eine völlig natürliche Reaktion. Man muss sich gegen
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