Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
daraus ergibt – mit Ausnahme von Bea vielleicht.«
Das zweite Mal, dass Daniel Charles Harris gesehen hatte, war an dem Tag gewesen, an dem Charlottes Mutter starb. Er erinnerte sich nur allzu gut an diesen Tag.
Dr. Webb war am Vormittag zu einem anderen Patienten gerufen worden, deshalb war Daniel allein bei Mrs Lamb gewesen, als sie ihren letzten Atemzug tat. Er empfand eine bittere Mischung aus Versagen und Kummer, verschärft noch durch den völlig verzweifelten Ausdruck auf Charlottes Gesicht. Er hatte sie gerade in den Arm nehmen und trösten wollen, als Mr Harris hereingestürmt war. Harris zog Charlotte ohne Umstände in seine Arme und schlug dabei seinen Umhang um sie. Für Daniel sah es einen Augenblick lang so aus, als schlüge eine riesige Fledermaus ihre Schwingen über Charlotte zusammen. Der Mann flüsterte leise Worte des Trostes, als sei es das Natürlichste von der Welt, das junge Mädchen im Arm zu halten.
Daniel, unbeachtet und unerwünscht, hatte das Zimmer verlassen.
Einige Tage später war Daniel Charlotte allein begegnet. Das Begräbnis war vorüber gewesen. Charlotte saß im Garten. Sie jätete nicht und beschnitt auch keine Blumen, sie saß nur ganz allein auf einem kleinen Rasenfleck. Er hatte sie nur sehr selten untätig gesehen. Er räusperte sich und legte die Hände auf den Rücken.
»Es tut mir entsetzlich leid, Miss Lamb.«
»Danke.«
»Wir haben getan, was wir konnten. Aber es war so wenig …«
»Das weiß ich. Wir geben Ihnen keine Schuld.«
»Doch, ich fürchte, Ihr Vater gibt uns die Schuld am Tod Ihrer Mutter.«
»Vater hat unrecht. Wir wussten alle, dass es so kommen würde. Auch Mutter wusste es. Vater wurde fast grob mit ihr, als sie einmal versuchte, mit ihm darüber zu reden. Wie auch immer, Ihnen gibt er jedenfalls nicht die Schuld.«
»Was meinen Sie damit?«
»Was glauben Sie, woher Mutters Krankheit kam? Vater hat mir selbst erzählt, dass sie nach meiner Geburt nicht mehr dieselbe war. Sie durfte keine Kinder mehr bekommen. Manchmal konnte sie vor Schmerzen kaum stehen. Und da war ich, ermüdete sie mit meinen ständigen Fragen und meinen Versuchen, sie in den Garten zu locken, wenn sie sich eigentlich drinnen hätte ausruhen sollen. Sie ist so lange krank gewesen, dass ich mir gar nicht mehr klarmachte, wie krank sie wirklich war. Vielleicht war ich auch zu egoistisch, um es zu merken. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass sie sich mehr schont. Ich hätte inständiger beten sollen. Ich hätte …«
»Charlotte, hören Sie auf. Sie haben getan, was Sie konnten. Sie haben sie mehr geliebt, als irgendeine andere Tochter, die ich kenne, ihre Mutter geliebt hat, und es war deutlich zu sehen, dass sie Sie ebenso liebte. Sie hätten nicht mehr tun können.«
»Ich möchte so gern glauben können, dass es nicht meine Schuld war.«
»Es ist nicht Ihre Schuld, Charlotte. Bürden Sie sich nicht eine Verantwortung auf, die Sie gar nicht tragen. Es gibt genügend Dinge, für die wir wirklich verantwortlich sind.«
Er schwieg, zog sein Taschentuch heraus, reichte es ihr und fuhr dann fort: »Warum muss es überhaupt irgendjemandes Schuld sein? Ich bin kein Theologe, aber ich nehme an, es ist auch nicht Gottes Schuld. Gut, man könnte sagen, er hat es zugelassen. Aber wer kann das schon beurteilen? Unser ärztliches Wissen und unsere Fähigkeiten sind noch lange nicht so weit, wie sie sein könnten – vieles ist nach wie vor ein frustrierendes Geheimnis für uns. Selbst wenn wir herausfinden, dass ein bestimmtes Organ nicht mehr richtig arbeitet, ja sogar, wenn wir wissen, warum es versagt, haben wir doch oft nicht die leiseste Ahnung, wie wir es reparieren könnten. Für Ihre Mutter haben wir wirklich alles getan, was wir nach unserem Kenntnisstand tun konnten. Und ich glaube auch nicht, dass Gott Ihnen ein Wunder verweigert hat, nur weil Sie das Buch Numeri nicht gelesen haben.«
11
Anfang des 19. Jahrhunderts fand ein neuer Begriff Eingang in die medizinische Terminologie – die Wochenbettpsychose … Man glaubte, dass das Risiko kurz nach der Geburt am größten sei, doch die Symptome konnten auch schon
während der Schwangerschaft auftreten.
Dr. Hilary Marland, Dangerous Motherhood
Die Eingangshalle war leer, als Charlotte sie durchquerte. Als sie die Haupttreppe passierte, sah sie, dass die Kette, die normalerweise zwischen der Wand und dem Geländer gespannt war, ausgehängt war und lose an der Wand herunterhing. Sie glaubte, oben Stimmen zu hören,
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