Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Gang mit vielen Türen auf beiden Seiten. Etwa in der Mitte des Gangs stand eine Tür auf der linken Seite offen. Schwaches Licht drang heraus und vermischte sich mit dem Licht einer Petroleumlampe auf einem Tischchen, das gegenüber der Tür an der Wand stand. Sie hörte das Weinen jetzt deutlicher, konnte aber immer noch keine Worte unterscheiden.
Sie hatte gerade zwei Schritte in den Flur hinein getan, als sie hörte, wie sich die Tür zum Aufgang unten öffnete und wieder schloss. Erschrocken sog sie die Luft ein. Gefangen! Sie blies ihre Kerze aus und blickte sich gehetzt um. Wo konnte sie sich verstecken? Sie drehte am Griff der nächstgelegenen Tür. Abgeschlossen. Es blieb keine Zeit mehr, auch die anderen Türen auszuprobieren, die vermutlich ohnehin alle abgeschlossen waren. Dankbar für ihre bestrumpften Füße lief sie lautlos, so rasch ihr schwerfälliger Leib es zuließ, den Flur hinunter. Da ihr nichts anderes einfiel, rannte sie zur einzigen offenen Tür und zog diese hinter sich zu.
Was hatte sie getan? Sie hatte sich einfach in den einzigen erhellten Raum geflüchtet, war wie eine Motte ins Feuer gelaufen. Und jetzt war sie gefangen. In wenigen Sekunden würde Dr. Taylor kommen und sie hier vorfinden. Was sollte sie dann sagen? Was konnte sie überhaupt sagen? Wie konnte sie nur so idiotisch sein! Sie hätte im Gang stehen bleiben und einfach sagen können, dass sie einen Schrei gehört hatte und nachsehen wollte, ob sie helfen konnte. Sie hatte nichts Unrechtes getan … jedenfalls bis dahin. Rasch ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Auf einer Truhe befanden sich ein Lederkoffer, eine große Arzttasche, ein Hut und Handschuhe. Eine Bibel. Das Miniaturporträt einer Frau im Hochzeitskleid. Sie konnte es von ihrem Standpunkt aus nicht genau erkennen, aber sie wusste, dass es Dr. Taylors Frau sein musste. Gütiger Himmel! Was, wenn Mrs Taylor hier im Bett gelegen hätte und jetzt die Fremde anstarren würde, die plötzlich da hereingestürzt war und sich hinter der Tür versteckte? Dann hätte man erst recht Schreie hören können! Doch dann fiel ihr ein, dass Dr. Taylor erwähnt hatte, er und seine Frau besäßen in einiger Entfernung ein Stadthaus, das sie gemeinsam mit seinem Vater bewohnten. Sie atmete erleichtert auf.
Die Schritte im Flur kamen näher. Unmittelbar vor der Tür blieben sie stehen. Spürte er vielleicht ihre Gegenwart? Hatte er sie gehört? Am besten, sie ging einfach hinaus und erzählte ihm die Wahrheit. Verzeihen Sie, Dr. Taylor, aber Sie haben mich zu Tode erschreckt. Ich hörte einen Schrei und … Sie hörte ein Rütteln an einer Klinke, ein Schlüssel wurde in ein Schloss gesteckt. Vorsichtig spähte sie hinaus. Dr. Taylor schloss gerade die gegenüberliegende Tür auf. Er stand mit dem Rücken zu ihr, öffnete die Tür, ohne sich zu bemühen, leise zu sein, zögerte und schien zu lauschen. Er griff in die Tasche, nahm ein Arzneifläschchen heraus und las im Licht der Tischlampe das Etikett. Dann steckte er das Fläschchen wieder zu sich. Er nahm die Lampe auf und stieß mit seiner freien Hand die Tür gerade weit genug auf, um hineinzugehen. Kurz bevor sich die Tür wieder schloss, sah Charlotte eine Gestalt auf ihn zufliegen. Sie schlug die Hand vor den Mund, ein Aufkeuchen unterdrückend, und trat rasch in den Flur hinaus.
Sie vernahm einen dumpfen Laut, dann eine Stimme – die Stimme einer Frau, aber seltsam verzerrt – die immer die gleiche Silbe rief: »Nonononono …!«
»Hör auf!«, donnerte Dr. Taylor. Seine Stimme klang wie ein Peitschenhieb, sodass Charlotte nicht geglaubt hätte, dass sie von ihm kam, hätte sie nicht gesehen, dass er den Raum gerade betreten hatte. Sie war völlig überrascht und fassungslos, als hätte er sie und nicht die fremde Frau angeschrien. Niemals hätte sie gedacht, dass er in einem solchen Ton mit jemandem reden könnte, ganz zu schweigen mit einer Patientin. Doch dann erklang wieder das Schluchzen und sie vernahm den vertrauten Klang von Dr. Taylors tiefer Stimme durch die verschlossene Tür.
Charlotte blieb noch einen Augenblick stehen, zu durcheinander, um sich zu rühren. Doch sie wusste, dass er jeden Augenblick wieder herauskommen konnte, deshalb huschte sie zurück in sein Zimmer und zündete ihre erloschene Kerze an einer anderen Kerze an, die auf einem niedrigen Tischchen brannte. Dahinter stand die Miniatur, die sie von der Tür aus gesehen hatte. Sie nahm sie auf und schaute sich das Bild an. Die Frau war
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