Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Titel: Die Lady von Milkweed Manor (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
Vom Netzwerk:
und blieb lauschend stehen. Es war Nachmittag, durch das Oberlicht über der Haustür fiel strahlend helles Sonnenlicht. Heute war gewiss nichts Unheimliches an der Szenerie, doch als mit einem Mal wieder die Schreie erklangen, schauderte es Charlotte unwillkürlich. Zugleich empfand sie tiefes Mitleid mit dem Geschöpf, das diese entsetzlichen Schreie ausstieß.
    Die Hand auf das Treppengeländer gelegt, stieg sie zögernd einige Stufen hoch.
    Plötzlich ertönte eine männliche Stimme von oben: »Moorling! Ich warte!« Charlotte erschrak zutiefst. Es war Dr. Prestons Stimme und er klang aufgebrachter denn je. Eigentlich hätte sie nicht erstaunt sein dürfen, überlegte sie. Es war bekannt, dass Dr. Taylor nachmittags gewöhnlich keinen Dienst hatte – dann war in der Regel Dr. Preston anwesend. Doch aus irgendeinem Grund überraschte es sie, ihn von dort oben zu hören. Sie hatte angenommen, dass sich dort nur Dr. Taylors Dienstwohnung – und Domäne – befand.
    Charlotte hörte Schritte auf dem Marmorboden und erblickte Mrs Moorling. Sie trug ein Tablett mit Skalpellen und Fläschchen, Jod und Verbandzeug. Charlotte erkannte mit einem Blick, wozu die Utensilien dienen sollten: zu einem Aderlass. Einer von Dr. Webbs Kollegen hatte dieses Verfahren einige Tage hintereinander bei ihrer Mutter angewandt und sie dadurch so geschwächt, dass Dr. Webb eine Wiederholung strengstens verboten hatte.
    Mrs Moorling, die vorsichtig ihr Tablett balancierte, hatte Charlotte noch nicht gesehen, doch als sie an die Treppe kam und aufblickte, nahm ihr ohnehin schon angespanntes Gesicht einen scharfen Ausdruck an.
    »Darf ich fragen, was Sie hier tun, Miss Smith?«
    »Ich dachte … ich hörte Stimmen.«
    »Natürlich hörten Sie Stimmen«, schnappte die Vorsteherin. »Wir behandeln gelegentlich auch in den oberen Stockwerken Patienten. Haben Sie denn die Absperrung nicht gesehen?«
    Charlotte schüttelte den Kopf.
    Mrs Moorling sah die lose herabhängende Kette. »Jemand hat vergessen, sie vorzulegen. Hängen Sie sie hinter mir wieder ein, bitte? Und bleiben Sie bitte unten.«
    Mrs Moorling stieg die Treppe hinauf. Charlotte wusste wohl, dass die Vorsteherin ihr noch länger die Leviten gelesen hätte, wenn Dr. Preston nicht so ungeduldig gewesen wäre. Sie seufzte und bückte sich unbeholfen nach der Kette. Auf einer daran befestigten Tafel war zu lesen: Zugang nur für Personal .
    Trotzdem, es war jemand oben, der nicht zum Personal gehörte und alles andere als glücklich war, dort zu sein.
    Sie wusste selbst nicht, warum sie einfach stehen blieb, aber sie fühlte sich wie festgewachsen. Ein paar Minuten später hörte sie wieder Schritte auf dem glatten Marmorboden, diesmal war es ein fester, männlicher Schritt. Durch die Halle sah sie Dr. Taylor auf sich zukommen. Er las im Gehen ein Dokument. Als er aufblickte und sie erkannte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
    »Einen guten Tag wünsche ich Ihnen, Miss Smith.«
    »Ihnen ebenfalls, Dr. Taylor.«
    »Dieser Ort kommt mir heute vor wie ein Grab. Ich meine, es scheint niemand hier zu sein. Haben Sie vielleicht Mrs Moorling oder Dr. Preston gesehen?«
    »Ja, das habe ich. Sie sind beide im oberen Stock.«
    Er blieb abrupt stehen. »Oben?« Sein Ausdruck war zugleich verblüfft und nachdenklich.
    »Mrs Moorling brachte einige Dinge hoch, nach denen Dr. Preston verlangt hatte.«
    Er ließ die Hand mit dem Schriftstück sinken. »Was für Dinge?«
    »Wenn ich mich nicht irre, Skalpelle und alles, was sonst für einen Aderlass nötig ist. Ich habe es daheim mehrmals gesehen, bis Dr. Webb es verboten hat.«
    Sein Ausdruck wechselte von Verblüffung zu Alarmbereitschaft und, wie sie zu sehen glaubte, Zorn.
    »Danke«, murmelte er hastig, sprang über die niedrige Absperrung und verschwand, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, um die Ecke. Sie hörte noch, wie er laut »Preston!«, rief.
    Irgendetwas Beunruhigendes ging oben vor sich. Erst wollte Charlotte ihm folgen, aber ein Blick auf die Tafel, die noch von der Berührung durch Dr. Taylors Sohlen hin und her schwang, hielt sie auf. Dies und der Gedanke an Mrs Moorlings ausdrückliches Verbot.
    Sie lief den Gang entlang, an ihrem Zimmer vorbei zum Dienstbotenaufgang. Dort schaute sie sich rasch um. Als sie niemanden sah, öffnete sie die schmale Tür, schlüpfte hindurch und schloss die Tür leise wieder hinter sich. Sie rannte die Stiegen hinauf, so schnell ihr schwerfälliger Leib es zuließ. Oben auf dem Treppenabsatz

Weitere Kostenlose Bücher