Die Lagune Der Flamingos
war Marco dieses Leben gewohnt, aber seit die neue Familie auf Tres Lomas war, wusste er, dass es auch andere Möglichkeiten gab.
Marco runzelte die Stirn. Er hatte grüne Augen, wie sie hier in der Gegend um Tucumán selten zu sehen waren, und lockiges dunkelbraunes Haar. Der Körper des Zwanzigjährigen war schlank, die Muskeln durch die schwere Arbeit, die er seit frühester Kindheit hatte ausüben müssen, wie gestählt.
Zuerst hatte er es nur für ein Gerücht gehalten, dann war es zur Gewissheit geworden. Die neue Familie behandelte ihre Arbeiter gut. Sie war aus dem Norden gekommen, aus Salta, und Marco hatte Don Laurentio sagen hören, dass die Santos offenbar nicht wussten, an welche Gepflogenheiten man sich hier in Tucumán hielt.
Mit einem leisen Seufzer drehte sich Marco zum Spiegel hin. Es hatte etwas gedauert, seine Mutter zu überreden, ihn an diesem Tag zu Hause zu lassen. Jeder in ihrer Familie musste arbeiten. Sie brauchten das wenige Geld, das jedes einzelne Familienmitglied nach Hause brachte, ob es sich um ihn, den Ältesten, handelte, oder die kleine Violetta, die bei der Zuckerrohrmühle die Abfälle einsammelte. Als Kind hatte auch er das gemacht, und oft war es ihm wie ein Abenteuer vorgekommen. Zuckerrohr schmeckte süß. Man kaute es, bis nur noch Fasern übrig blieben. Früher hatte er nicht verstanden, wie schwer das Leben für seine Eltern war. Er hatte nicht verstanden, wie verzweifelt sie Tag um Tag für das Überleben der Familie kämpften. Früher hatte der Zucker ihm das Leben versüßt, heute hatte er einen bitteren Beigeschmack. Der Zucker machte die Reichen reich, aber die Armen blieben arm.
Um seine Nervosität zu bekämpfen, griff Marco noch einmal nach dem hölzernen Kamm, den er sich selbst geschnitzt hatte, und kämmte sich sorgsam das Haar, das so schwer zu bändigen war. Er wollte nicht unordentlich aussehen. Als er seinen Scheitel zog und den Kamm dabei stramm über die Kopfhaut schrammte, fluchte er leise über den Schmerz. Dann sah er an sich hinunter. Er trug sein bestes Hemd und die Hose mit den wenigsten Flicken, die er gewöhnlich nur sonntags anzog. Leider hatte er keine Schuhe, lediglich geflochtene Sandalen, die ihre besten Tage schon hinter sich hatten. Meist lief er ja ohnehin barfuß.
Vorsichtig spähte Marco aus dem Fenster, bevor er die kleine Hütte verließ, die er sich mit den Eltern und seiner Schwester teilte. Zwar stand es jedem frei, auf den Feldern Don Laurentios zu arbeiten oder eben nicht – schließlich wurde man nur bezahlt, wenn man arbeitete –, aber Don Laurentio mochte keine Müßiggänger. Er hielt immer Ausschau nach jenen, die in ihren Hütten blieben.
Marco schlug den Weg ein, der ihn über weite Umwege zum Haus der Santos führen würde. Er war fest entschlossen, heute auf Tres Lomas nach Arbeit zu fragen. Dann, so hoffte er, würde er seine Familie besser unterstützen können. Vielleicht würde er sogar etwas Geld für seinen größten Traum beiseite legen können.
Obwohl sein Vater stets von Hirngespinsten sprach, hatte Marco große Pläne. Eines Tages wollte er nicht mehr Zuckerrohr schneiden. Zuckerrohr schneiden, das konnte jeder, der ein Messer halten konnte. Er wollte auch nicht mehr von Tag zu Tag leben, wollte nicht mehr abhängig sein von den Launen eines patrón oder denen des Wetters. Marco wollte einen wirklichen Beruf erlernen, vielleicht sogar einen, bei dem er seinen Erfindungsreichtum einsetzen konnte. Er hatte schon einige Dinge erdacht und erbaut. Er war nicht ungeschickt. Vielleicht …
In der Nähe waren mit einem Mal Stimmen zu hören, kräftige, laute Stimmen. Weil er nicht achtgegeben hatte, wäre er fast Don Laurentio und seinem Vorarbeiter in die Arme gelaufen. Geduckt eilte Marco weiter. Es dauerte jetzt nicht mehr lange, bis die weiße Estancia der Santos vor ihm auftauchte. Sicherlich war es dumm, das zu glauben, aber ihm schien, als sehe der Garten rund um diese Estancia grüner aus, sanfter, ja freundlicher.
Vorsichtig ging Marco am Rand des bekiesten Weges entlang, er traute sich nicht, in der Mitte zu laufen. Trotzdem hielt er den Blick fest auf das von Säulen gerahmte Eingangsportal des Hauses gerichtet.
Obwohl sie es sich anfangs anders ausgemalt hatten, verbrachten Pedro und Viktoria das ganze Jahr auf Tres Lomas bei Tucumán. Manchmal unternahmen sie einen Ausflug in die Anden bei Salta, aber ihnen fiel es mittlerweile leichter, auf Tres Lomas glücklich zu sein als dort. Unwiderruflich
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