Die Lagune Der Flamingos
hier und da auch etwas von ihrem Ehemann in der Tochter sah, so liebte sie Estella doch aus vollem Herzen. Und auch Humberto hatte seine Tochter nicht vergessen. Sie war die Einzige, für die ab und an kleine Geschenke aus Salta eintrafen: Stoffe, Schmuckstücke, Spielzeug für ein viel jüngeres Kind. Viktoria wusste, dass Estella all diese Geschenke in einer Holzkiste verstaute. Vielleicht würden sie eines Tages einmal eine Bedeutung für sie haben.
Anders als in den vergangenen Jahren war Estella in diesem Jahr nach den Sommerferien nicht mehr nach Buenos Aires zurückgekehrt. Natürlich war die Schulzeit für sie vorüber, aber irgendetwas musste vorgefallen sein. Niemals hätte sie sich sonst wenigstens einen Besuch in Buenos Aires bei ihrer besten Freundin Marlena nehmen lassen. Viktoria bedauerte, dass ihre Tochter sie nicht ins Vertrauen zog.
Sie hörte Estella leise seufzen und trat an ihre Seite. Behutsam strich sie ihr über den Arm.
»Willst du mir nicht sagen, was zwischen Marlena und dir vorgefallen ist?«
Estella schüttelte den Kopf. Ihr Kiefer spannte sich an und zitterte, so fest presste sie die Zähne aufeinander.
»Es ist nicht wichtig«, sagte sie dann.
»Aber es beschäftigt dich«, entgegnete Viktoria.
Estella lachte zynisch auf. »Ach, weißt du, du würdest sicherlich sagen, das gehört zum Erwachsenwerden dazu.«
»Was?«
»Enttäuscht zu werden.«
»Von wem? Von Marlena?«
Estella antwortete nicht.
Viktoria wartete noch einen Augenblick. Dann sagte sie: »Nun gut. Wenn du reden möchtest, meine Tür steht jederzeit offen.«
»Ich weiß Mama, mach dir keine Sorgen.« Estella stand abrupt auf und ging mit raschen Schritten in den Garten.
Viktoria schaute ihr nachdenklich hinterher. Ihre Gedanken rasten wieder einmal.
Aber ich mache mir Sorgen, dagegen kann ich wohl nichts tun. Ich mache mir Sorgen.
Estella hielt den Kopf gesenkt und starrte auf die weißen Kiesel vor sich, während sie sich vom Haus wegbewegte. Es tat immer noch weh, an Marlena zu denken. An Marlena und John. An den Moment, an dem sie die beiden gesehen und verstanden hatte, dass sie tatsächlich verloren hatte. Vielleicht war es dumm, die ganze Sache aus diesem Blickwinkel zu betrachten, aber sie konnte nicht anders. Seit sie Marlena kannte, waren sie unzertrennlich gewesen, aber seit einem Jahr war alles anders.
Schon wieder spürte Estella, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ärgerlich und sicherlich sehr undamenhaft zog sie die Nase hoch.
Gut, dass mich hier niemand sieht, dachte sie und erschrak im selben Moment. Vollkommen unerwartet war sie mit jemandem zusammengeprallt. Sie gerieten beide aus dem Gleichgewicht.
»Verdammt«, fluchte sie, während sie darum kämpfte, nicht zu fallen.
Ihr Gegenüber blieb stumm, hatte sich aber rasch gefangen und griff nach ihrem Arm. Erst jetzt hatte Estella Gelegenheit, ihn anzusehen. Ein junger Mann in einfachster Kleidung, an dem ihr als Erstes die leuchtenden grünen Augen auffielen, stand vor ihr und starrte sie an, als wäre sie ein Geist.
»Wer sind Sie?«, fragte sie schnippisch.
»Oh … äh … natürlich, Señorita Santos. Ich bitte vielmals um Verzeihung, ich …«
Woher kennt er mich?, fuhr es Estella durch den Kopf. Sie hielt sich fast die ganze Zeit auf der Estancia auf, am gesellschaftlichen Leben nahm sie gar nicht teil. Nun ja, dieser junge Mann nahm sicherlich auch nicht am gesellschaftlichen Leben teil. Sie musterte ihn noch einmal genauer und spürte, wie der Ärger, der in ihr aufgestiegen war, mit einem Mal nachließ.
Er hatte ein sehr gleichmäßig geschnittenes Gesicht und lockiges dunkelbraunes, wohl etwas störrisches Haar, das er sich nun nervös mit der freien Hand aus der Stirn strich, denn mit der anderen hielt er sie immer noch fest.
»Würden Sie mich loslassen?«
»Na … natürlich«, stammelte er.
»Also, wer sind Sie?«
»Ich bin Marco Pessoa, einer von Don Laurentios Arbeitern … Nein … ich …«, verbesserte er sich im nächsten Moment, »… ich arbeite für ihn und …«
Der junge Mann sprach wohl von Laurentio Zuñiga. Don Laurentio hatte erst kürzlich wieder ihre Eltern besucht, um ihnen etwas über die Gepflogenheiten unter den Zucker-Estancieros zu erzählen, offenbar der Meinung, dass die Santos ihre Arbeiter zu gut behandelten. Er hatte dies schon häufiger getan, eigentlich immer wieder seit ihre Mutter auf Tres Lomas lebte, mal mit mehr, mal mit weniger Nachdruck.
»Hin und wieder muss man sie
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