Die Lagune Der Flamingos
Zeitpunkt gekommen.
Wilhelm Knaab drehte seinen Becher in den Händen. »Ach, ich erinnere mich noch gut an die Kämpfe, die ausbrachen, als die Ersten hier ankamen, die das liebe Deutschland aus politischen und nicht aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hatten. Da gab es damals einen Dominico, seines Zeichens Militärmusiker, der eine Musikalienhandlung in Buenos Aires eröffnet hatte, und seinen Bruder, der ein Milchgeschäft betrieb. Die wandten sich gegen das Presbyterium der Großkaufleute. Es kam sogar zu Tätlichkeiten. Erst waren wir kleinen Leute sogar erfolgreich. Allerdings boten die Großkaufleute bei der nächsten Versammlung ihre zahlreichen Angestellten auf, sodass das meiste beim Alten blieb.«
John zog die Augenbrauen hoch. »Ich sag’s doch, der Reiche ist von jeher ein elender Betrüger.«
»Immerhin sind nicht alle Wünsche unberücksichtigt geblieben«, stellte Wilhelm fest, »der Kirchenvorstand wurde doch auf eine breitere Grundlage gestellt. Die Demokraten, die mit diesen Zugeständnissen nicht zufrieden waren, haben den Verein Vorwärts gegründet.«
John schüttelte den Kopf. »Ich sag es dir. Es ist auch jetzt wieder Zeit für Veränderungen, Wilhelm. Wir müssen endlich unsere Rechte einfordern und der Herrschaft der Oligarchen und vor allem der Großgrundbesitzer ein Ende setzen.«
Wilhelm wiegte seinen Kopf hin und her. »Ja, das wäre eine feine Sache. Das Problem ist doch aber, dass sich die meisten Einwanderer nicht für Argentinier halten. Sie bleiben Italiener, Franzosen, Deutsche, Spanier, oder, um es exakter zu sagen, Basken, Lombarden, Galizier, Bayern – sogar, wenn sie ihre Familien hierher gebracht haben und hier sterben werden.«
John hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Aber es muss sich doch etwas ändern!« Wilhelm nickte. »Es wird sich ja auch etwas ändern, zwangsläufig. Zeigt es sich nicht schon jetzt, dass der eingewanderte europäische Arbeiter den unteren Klassen dieser Stadt den Wunsch materieller Verbesserungen nähergebracht hat? Die Resignation, die Demut und die Apathie, all das, was einmal die Armen dieser Stadt gekennzeichnet hat, wird es zukünftig nicht mehr geben, das versichere ich dir.« John runzelte die Stirn. »Ach, wenn doch nicht alles immer so elend langsam gehen würde …« Wilhelm schüttelte den Kopf. »Geduld, nur Geduld. Es fängt doch schon an.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
In dieser Nacht kehrte John so betrunken wie schon lange nicht mehr in seine und Marlenas winzige Bleibe zurück. Wieder einmal flüchtete Marlena mit Aurora zu Jenny und Rahel. In letzter Zeit, gestand sie sich ein, suchte sie immer öfter Zuflucht bei den Goldbergs. Sie ging, wenn John sich betrunken hatte oder wenn sie miteinander stritten. Sie ging, wenn sie hungrig oder müde war oder wenn sie fror. Stets hatten die beiden Frauen ein offenes Ohr für sie. Mittlerweile hatte sie Rahel Goldberg auch beauftragt, ihre Mutter und Julius von ihr zu grüßen.
Es war nicht leicht gewesen, Rahel anfangs davon zu überzeugen, Stillschweigen über ihren Verbleib zu üben. Marlena hatte die alte Freundin der Familie gebeten, Distanz zu wahren, doch Rahel hatte gesagt, dass ihr das dauerhaft unmöglich sein würde. Also hatten die Meyer-Weinbrenners nach banger Zeit zumindest erfahren, dass es Marlena und ihrem Kind einigermaßen gut ging.
Am nächsten Morgen schlug Rahel Goldberg Marlena vor, ein entspannendes Bad zu nehmen. Aurora zahnte und hatte schlecht geschlafen, also war die hochschwangere Marlena einigermaßen erschöpft. Doch jetzt schlief die Kleine selig in dem Bettchen, das Rahel für sie hergerichtet hatte.
Marlena hatte es sich gerade in dem warmen, duftenden Wasser bequem gemacht, als Jenny zu ihr kam und sich auf den Badewannenrand setzte. Nachdenklich betrachtete sie Marlena.
»Er ist ein Lump, nicht?«, fragte sie unvermittelt.
Marlena, die sich bis zum Kinn ins Wasser hatte sinken lassen, schob sich hoch. Ihr Bauch schimmerte weiß durch die Wasseroberfläche. Ihr Leib hatte sich schon beträchtlich gerundet, und sie genoss die Leichtigkeit, die sie im Wasser verspürte. Es konnte nicht mehr lange bis zur Niederkunft dauern.
Ein Lump, überlegte sie. Ja, er ist ein Lump.
Sie nickte nachdenklich. »Aber ich liebe ihn«, flüsterte sie dann.
Jenny strich ihr über das Haar. »Ich weiß, ich weiß. Er kann sehr anziehend sein, regelrecht verführerisch.«
Die jungen Frauen sahen einander an. Ohne zu wissen warum, begannen sie
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