Die Lagune Der Flamingos
Marlena erst eingeredet, dass sie sich auf ein Wiedersehen mit Estella freute, so musste sie sich auf der Fahrt eingestehen, dass sie der Gedanke, Estella nach so vielen Jahren wieder gegenüberzustehen, doch beunruhigte. Sie beide hatten Fehler gemacht im Kampf um den Mann, den auch Marlena letztendlich hatte verlassen müssen. Während Marlena den einjährigen Joaquín in den Armen wiegte, und Aurora in der Kutsche auf der Bank gegenüber schlief, verlor sie sich immer wieder in Gedanken. Auch die Zeit der Entführung kehrte zurück. Damals waren Estella und sie gefesselt unter schmutzigen Decken verborgen auf einem Karren nach La Dulce gebracht worden. Damals hatte sie nichts von der Schönheit der Landschaft entlang der Strecke gesehen, und auch auf der Rückfahrt nach Buenos Aires war sie nicht sonderlich aufmerksam gewesen.
Als sie auf La Dulce eintraf, war es Mittag, und im Hof war niemand zu sehen. Marlena zögerte einen Moment, bevor sie sich entschied, mit Rufen auf sich aufmerksam zu machen. Ein weißblonder Mann mit blitzend blauen Augen trat bald auf die Veranda. Marlena drückte Joaquín an ihre Brust, während sich Aurora an ihre Beine schmiegte.
»Ist Eduard Brunner da?«
»Er ist gerade zu Tisch.«
»Danke, Arthur, das muss meine Nichte sein«, war da schon Eduards Stimme zu hören. »Marlena«, rief er im nächsten Moment erfreut aus. »Anna hat mir eine Nachricht geschickt. Schön, dass du schon da bist.« Er winkte ihr, die Stufen zur Veranda hochzukommen, und nahm sie in den Arm. »Komm, komm mit herein, wir essen gerade. Du bist sicher hungrig.« Er tätschelte Aurora und Joaquín den Kopf. »Und ihr zwei auch, stimmt’s?«
Marlena zögerte einen Moment, bevor sie das Haus betrat. Aus einem Zimmer am Ende des Ganges drangen Stimmen und Geschirrklappern. Sie fürchtete sich davor, von Erinnerungen überwältigt zu werden. Aber es war nicht so.
Marlena ließ sich an diesem Abend noch etwas Zeit damit, die Kinder ins Bett zu bringen. Eduard hatte ihr und Estella vorgeschlagen, sich ein Zimmer zu teilen, und sie hatte nicht gewagt, Eduard um ein eigenes zu bitten. Die Kleinen waren bei einer Magd untergebracht, selbst eine junge Mutter, die auf die beiden aufpassen wollte.
»Ich weiß doch«, sagte Eduard, »dass ihr, Estella und du, euch viel zu erzählen habt.« Weiß er denn nicht, dass wir uns zerstritten haben?, überlegte Marlena. Aber natürlich wusste er es. Nur war er wie ihre Mutter der Meinung, dass man immer alles besprechen sollte.
Als Marlena sich auf die Schlafzimmertür zubewegte, wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Es war ewig her, dass Estella und sie zusammen genächtigt hatten. Damals waren sie Mädchen gewesen, heute waren sie junge Frauen. Beim gemeinsamen Mittagessen hatten sie sich nur verstohlen beäugt. Eduard hatte seine anderen Gäste vorgestellt. Annelie und Mina waren schon seit einigen Jahren Gäste auf La Dulce und führten inzwischen Eduards Haushalt. Ihr Onkel hatte, als Marlena mit ihm allein gewesen war, kurz angedeutet, dass Mutter und Tochter Schreckliches erlebt hatten, was sie auch ihm bislang nicht offenbart hatten. Wohl lag ihm Annelie sehr am Herzen, doch sie schien es nicht wahrzunehmen. Weißt du, Marlena, hatte ihr Onkel gesagt, ich habe alle Zeit der Welt, und ich will Annelie und Mina alle Zeit der Welt schenken, bis sie sich so sicher fühlen, dass wir eine Familie sein können. Und bis dahin erfreue ich mich daran, dass wir hier nebeneinander leben.
Dann hatte Marlena noch Arthur, einen jungen Wolgadeutschen, kennengelernt. Er bearbeitete als Pächter einen Teil des Landes, das zur Estancia gehörte. Wenn Marlena es recht verstanden hatte, hatte er kurz nach seiner Ankunft in Argentinien seine Frau verloren. Sie war in der Menschenmenge verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Allerdings hoffte er immer noch darauf, sie wiederzufinden. Dann war da noch Paco, der mittlerweile so erwachsen geworden war, dass sie ihn kaum wiedererkannt hatte, und der für einen Rechtsanwalt arbeitete. An seiner Seite hatte Blanca Brunner gesessen, die Tochter ihres verstorbenen Onkels Gustav. Es bedurfte keiner Worte, um zu erkennen, dass die hübsche junge Frau Paco hin und wieder die Sprache verschlug. Wenn Marlena auf der Fahrt noch sicher gewesen war, sich auf La Dulce nicht wohl fühlen zu wollen, so hatte sie schon nach kurzem Zusammensein mit den lachenden und munter durcheinanderplappernden Menschen ihre Meinung geändert.
Sie klopfte zaghaft an die
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