Die Lagune Der Flamingos
ihm offenbar weh, dass sie sich seiner Meinung nach geschlagen geben mussten. Viktoria nahm alle Kraft zusammen und lächelte Paco aufmunternd zu.
»Dieses Mal schleichen wir uns nicht fort«, sagte sie mit einem Lächeln. »Wir werden uns auch nicht verstecken, nicht wahr, Pedro? Vor nichts und niemandem.«
»Nein.« Pedro klopfte seinem Sohn auf die Schultern. »Wir sammeln unsere Kräfte, Paco. Auch der stärkste Mann muss einmal seine Kräfte sammeln.«
Viktoria sah, wie ihr Sohn die Stirn runzelte, sich dann aber wohl zufriedengab. Wenig später brachen sie auf. Als die Karren durch das Tor von Santa Celia rumpelten, sah Viktoria über ihre Schulter zurück.
Wann werde ich dich wiedersehen, Santa Celia? Werde ich dich je wiedersehen?
Viertes Kapitel
Die Nordamerika sollte gegen sieben Uhr abends ablegen. Etwa zweitausend Menschen hatten sich dazu auf der Mole von Genua versammelt. Die Stadt lag in Annas Rücken, die Sonne begann eben zu sinken, während die Passagiere teils ungeduldig, teils verzagt darauf warteten, an Bord gehen zu dürfen. Anna bemerkte erst, dass sie zitterte, als Julius den Arm um sie legte.
»Traurig?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Anna zuckte die Achseln. Wie in einem wilden Wirbel strömten die Bilder der letzten Monate auf sie ein. Die Reise von Buenos Aires nach Europa, das Wiedersehen mit Freunden, vor allem mit ihrer Freundin Gustl, die erste Begegnung mit Julius’ Familie. Obwohl sie mittlerweile eine gestandene Frau von siebenunddreißig Jahren war, musste sie zugeben, dass sie sich vor seinem Vater gefürchtet hatte. César Meyer war ein Patriarch, und Anna wusste nicht, ob er Julius den eigenmächtigen Fortgang aus der Heimat und die ebenso eigenmächtige Heirat jemals verzeihen würde.
Ihre Tochter, die jetzt fünf Monate alte Leonora, war es gewesen, die schließlich das Eis brach, indem sie ihrem Großvater ein breites Lächeln schenkte. Danach war César sehr viel zurückhaltender gewesen und hatte wohl auch die eine oder andere scharfe Bemerkung heruntergeschluckt. Julius’ Mutter Ottilie dagegen war eine herzensgute Frau, und Anna erkannte viel von Julius in ihr. Die beiden lachten heimlich darüber, dass es Ottilie gewesen war, die dem Sohn den Weg in die Neue Welt geebnet hatte. Über den Erfolg, den Julius dort hatte, konnte allerdings auch César seinen Stolz nicht verhehlen. Dennoch war die Beziehung zwischen Vater und Sohn stets ein wenig angespannt. Ein Abend war Anna besonders in Erinnerung geblieben. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie jetzt daran zurückdachte.
»Himmel«, Julius hatte die Augen verdreht und gestöhnt, während sie sich für das Abendessen mit seinen Eltern umzogen. »Mein Herr Vater schafft es doch tatsächlich immer wieder, mich zu einem Fünfzehnjährigen zu machen!«
Anna hatte ihrem Mann liebevoll über den Arm gestrichen. Seit sie die Schwangerschaft glücklich hinter sich gebracht hatte, fühlte sie sich ungewöhnlich stark. Allerdings empfand auch sie ein Abendessen ohne Julius’ Vater als weitaus unterhaltsamer.
»Müssen wir wirklich hinuntergehen?«, fragte sie deshalb nun mit einem ähnlich schiefen Grinsen wie dem, das sich auf Julius’ Gesicht zeigte.
Der zuckte die Achseln. »Ich fürchte, ja. Mein Vater hat heute sogar jemanden eingeladen.«
»Ach, ja?«
Anna überprüfte unweigerlich noch einmal ihre Frisur im Spiegel. Ottilie hatte ihr ein Mädchen zur Verfügung gestellt, das ihr einen Zopf geflochten und ihn zu einem wirklich hübschen Knoten hochgesteckt hatte. Die grauen Strähnen, die sich schon früh in Annas Haar geschlichen hatten, bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrem noch recht jungen Gesicht. Sie schaute wieder zu Julius.
»Wen denn?«
Julius schien sich mit einem Mal unbehaglich zu fühlen. Ohne Antwort zu geben, erhob er sich und ging zu der Wiege hinüber, in der die kleine Leonora friedlich schlummerte. Ottilie hatte sie ihnen ins Zimmer gestellt. Schon Julius hatte darin gelegen.
»Sophie Knox.«
»Wen?« Anna konnte sich nicht daran erinnern, den Namen vorher schon einmal gehört zu haben.
»Meine ehemalige Verlobte«, murmelte Julius.
»Oh.«
»Mein Vater wirft mir vor, ich hätte sie damals sitzen lassen.« Der Ausdruck auf Julius’ Gesicht war jetzt flehend. »Aber ich schwöre dir, Anna, sie war informiert und hat mich von allen Pflichten entbunden. Wir haben einander nie geliebt.« Julius’ Augen weiteten sich, während er in die Ferne blickte. »Ich
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