Die Lagune Der Flamingos
Annas Schwester. Lediglich das rotbraune Haar hatte Leonora von ihrem Großvater mütterlicherseits geerbt, Heinrich Brunner. Auch Anna selbst und ihre Brüder Gustav und Eduard hatten das typische Brunner-Haar, wie sie es nannten, wenn sie unter sich waren.
Anna seufzte. Marlena stand etwas von ihnen entfernt, den Blick auf das Meer gerichtet. Sie hielt sich sehr gerade, doch das änderte nichts daran, dass der Wind unablässig an ihrem Kleid und an dem Häubchen zerrte.
Sie ist schon so eigenständig, dachte Anna mit leiser Wehmut, aber sie hat ja auch schon eine Menge mitgemacht in ihrem kurzen Leben. Marlenas Vater Kaleb Weinbrenner war zwei Wochen vor ihrer Geburt an der Schwindsucht gestorben, und Anna hatte sich mit der Kleinen allein durchschlagen müssen. Marlena musste in ihrem frühen Leben oft zurückstehen, und manchmal plagte Anna deswegen auch heute noch das schlechte Gewissen. Zum Glück schien es ihrer Tochter nicht geschadet zu haben.
Marlenas Augen, erinnerte Anna sich jetzt unvermittelt, hatten aufgeleuchtet, als Sophie von ihren Reisen erzählt hatte. Anna war das unverständlich. Sie konnte dem Reisen um des Reisens willen wenig abgewinnen – und Marlena war doch noch so jung …
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie spürte, wie Julius sie noch fester an sich drückte.
»Ja, vielleicht«, flüsterte sie jetzt, auf seine Frage antwortend. »Vielleicht bin ich traurig.«
Julius löste den Arm von Annas Schulter und zupfte Leonoras Mützchen zurecht.
»Die Reise ist nicht mehr so schwierig. Wir werden gewiss noch einmal zurückkehren«, suchte er sie zu beruhigen. »Es muss nicht mehr für immer sein.« Er zwinkerte ihr zu.
Anna nickte. Damals, als sie in der Neuen Welt angekommen war, hatte sie tatsächlich geglaubt, die alte Heimat nie wiederzusehen. Aber die Entwicklungen der letzten Jahre zeigten, dass sie sich geirrt hatte. Neue Schifffahrtslinien waren eingerichtet worden. Schnellere Schiffe bedienten die Routen. 1872 war unter der schwarz-weiß-roten Reichsflagge das erste Schiff der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft, die Bahía, im Hafen von Buenos Aires eingelaufen. Im darauffolgenden Jahr hatte die Kosmos-L in ie ihren Dienst noch ausgedehnt, und seit 1876 wurden die ersten Hapag-Dampfer nach Argentinien eingesetzt.
»Nein, das ist es nicht«, langsam drehte Anna ihrem Mann den Kopf zu. »Weißt du, ich dachte immer, wenn ich einmal wieder in Europa bin, werde ich spüren, dass das mein Zuhause ist, werde ich mich nicht mehr hin- und hergerissen fühlen, aber …«
»… aber das ist nicht so«, beendete Julius ihren Satz mit einem erneuten Lächeln.
»Nein«, bestätigte Anna, während neben ihnen eine Gruppe von Herren und Damen in stürmisches Gelächter ausbrach. Anna wartete einen Moment und sprach dann weiter. »Jetzt ist es so«, sagte sie dann, »dass ich es kaum noch erwarten kann, wieder drüben anzukommen. Ich kann es nicht erwarten, Maria in ihrer Konditorei zu besuchen, Lenchen in die Arme zu schließen und mir ihre neuesten Entwürfe anzusehen, mein Büro zu betreten und mich in die Geschäftspapiere zu vertiefen. Ich frage mich, ob der Jacaranda schon blüht. Ich werde mich sogar darüber freuen, meinen Vater zu sehen, auch wenn ich es hasse, wenn er in meinem Hof sitzt, sich betrinkt und Maulaffen feilhält.«
Anna lachte kopfschüttelnd. Die Beziehung zu ihrem Vater war stets und besonders in den letzten Jahren ein ständiges Auf und Ab gewesen.
»Und das beunruhigt dich?« Julius lachte nun ebenfalls.
Auch in der Gruppe in ihrer Nähe brach erneut Heiterkeit aus. Während Anna zuerst etwas irritiert davon gewesen war, so bemerkte sie jetzt doch einen Unterton in den fröhlichen italienischen Stimmen, der Angst verhieß. Die Fröhlichkeit sollte wohl die Trauer überspielen.
»Na ja …« Anna zuckte die Schultern.
Jetzt geriet Bewegung in die wartende Menge, vielleicht war irgendwo ein Signal ertönt.
»Marlena«, rief Anna ihre bald dreizehnjährige Tochter zu sich.
Das Mädchen wandte sich vom Meer ab und kam zu ihnen herüber. Unter dem Häubchen, das mit einer großen grünen Schleife befestigt war, lockte sich ihr dunkles, kaum zu bändigendes Haar. Zum ersten Mal fiel Anna ein Ausdruck im Gesicht ihrer Tochter auf, der von kommenden Veränderungen zeugte, auch wenn der Körper noch so kindlich war.
Marlena hatte die Reise sehr genossen. Von Hamburg aus waren sie gemeinsam nach Köln gereist und hatten sich den Dom
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