Die Lagune Der Flamingos
nicht fortschicken.«
»Nein, Mama, aber du weißt doch, dass er tot ist, ja? Du erinnerst dich, ja?«
Corazon verzog das Gesicht, als schmerzten sie die bloßen Worte.
»Du bist ein gutes Kind, Blanca«, sagte sie nach einer Weile, »du warst immer ein gutes Kind.«
Blanca antwortete nicht. Sie sah, wie Corazon aufstand, ihr schmutziges Kleid auszog, noch einmal kurz zögerte und sich dann nackt mit einem mädchenhaften Lachen auf den Fluss zubewegte.
Ihr einstmals schlanker, straffer Körper war mager geworden, die Haut wirkte trotz ihrer Bräune bleich. Die Knochen waren deutlich zu sehen, trotzdem konnte man erkennen, welch schöne Frau Corazon einmal gewesen war. Jetzt drehte sie sich zu ihrer Tochter um, hob die Hand und winkte. Ein Lächeln malte sich auf Corazons Züge. Einen Moment später tauchte sie unter und sprang im nächsten prustend wieder hoch.
»Komm herein, Blanca, es ist so erfrischend.«
Blanca tat, wie ihr geheißen. Nachdem sie eine Weile im Wasser geplantscht hatten, nahm sie die Seife und wusch ihrer Mutter die Haare. Danach gingen sie zurück ans Ufer. Blanca schlüpfte in den Poncho und half ihrer Mutter, sich in die mitgebrachte Decke zu wickeln, damit sie ihr Haar kämmen konnte. Es war mit grauen Strähnen durchzogen, manch verfilzte Stelle ließ sich nicht entwirren, aber nun, da Blanca es gewaschen und etwas Rosenöl hineinmassiert hatte, sah es wieder sauber aus und duftete. Corazon schnupperte.
»Hm … Rosenöl. Woher hast du das?«
»Ein Geschenk.«
Corazon fragte nicht weiter, von wem und wofür. Nach einer Weile lachte sie und rief: »Ich fühle mich wie eine Prinzessin.«
Später lagen sie nebeneinander an dem kleinen Strand. Sie hatten sich frisch angezogen, die Sonne wärmte sie. Es war ein schöner Tag, der schönste seit Langem. Blanca schloss die Augen und dachte an den Tag zurück, an dem sich alles geändert hatte …
***
Buenos Aires, zwei Jahre zuvor
Anna, die Schwester ihres Vaters Gustavo, hatte mit ihrer Familie und Freunden ein Fest gefeiert. Corazon war verzweifelt gewesen, weil sie Gustavo, den sie schon wochenlang gesucht hatte, auch an diesem Abend unter den Feiernden nicht fand.
Später, als sie wieder zu Hause waren, ließ sie ihren Kummer an Blanca aus.
»Warum verstehst du nicht endlich, dass er nie mehr wiederkommt?«, fragte Blanca ihre Mutter irgendwann ungehalten.
Ohne Umschweife drehte sich Corazon zu ihrer Tochter herum und schlug ihr mitten ins Gesicht. Blancas Kopf flog mit einem Ruck zur Seite. Einen Moment lang biss sie die Lippen aufeinander, aber kein Laut war zu hören. Vielmehr blickte sie ihre Mutter herausfordernd an.
»Mehr kannst du nicht, was? Ich meine, außer mich schlagen und die Beine breit machen. Aber nicht einmal das kannst du gut, sonst hättest du nicht so viele schmutzige Kunden.«
Corazon kniff die Augen zusammen. »Er hat mich geliebt.«
»Wer, mein Vater?« Blanca lachte höhnisch auf.
Ihre Mutter sah sie an, als könne sie nicht glauben, wie aus einem Kindermund solche Laute kommen konnten.
»Habe ich dich je hungern lassen?«, gab sie statt einer Antwort auf Blancas Frage zurück. Dann biss sie sich auf die Lippen. »Verdammt, ich hätte dich damals einfach liegen lassen und gehen sollen, viele machen das. Weiß du, wie viele Säuglinge jedes Jahr auf den Straßen von Buenos Aires gefunden werden? Weißt du, wie viele verrecken, bevor man sie entdeckt? Lieber Gott, warum habe ich dich nicht einfach auch verrecken lassen, du undankbares kleines Miststück?«
Blanca verzog den Mund. »Der liebe Gott wird es dir danken, Mama. Sei froh, vielleicht erspart er dir ein paar Jahre im Fegefeuer.«
Corazon schaute ihre Tochter länger an. Und dann sagte sie etwas, das Blanca die Sprache verschlug.
»Du siehst älter aus, als du bist, und du bist nicht hässlich. Ein wenig mager vielleicht, aber mit der entsprechenden Kleidung und etwas Schmuck können wir einiges aus dir herausholen – zum Preis deiner Jungfräulichkeit natürlich, aber … Ich bin mir sicher, wenn ich es geschickt angehe, dann kann ich eine gute Stange Geld mit dir verdienen.« Ihre Mutter drehte sich weg und sah aus dem Fenster. »Vielleicht ist es tatsächlich Zeit, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Gleich morgen werde ich mit Señora Valdez sprechen …«
Blanca hätte schreien können, aber sie tat es nicht. Niemand würde ihr helfen. Noch nie in ihrem Leben hatte ihr irgendjemand geholfen. Die meisten hatten noch nicht einmal
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