Die Lagune Der Flamingos
die Bohnen vom Teller, bevor sie ihn mit etwas Wasser säuberte. Als sie zurück ins Zimmer kam, stand ihre Mutter mitten im Raum und starrte in eine unergründliche Ferne. Sie war bleich. Unter ihren Augen lagen tiefe Ringe. Ihr Mund zitterte plötzlich.
»Ich habe ihn so geliebt«, flüsterte sie dann heiser, »so sehr geliebt, meinen Gustavo.«
Deshalb hat er dich sicher auch sitzen lassen, mein Vater, wollte Blanca scharf antworten, oder sich von irgendjemandem umbringen lassen. Doch dann biss sie sich auf die Lippen. Sie wussten nicht, was mit Gustavo geschehen war. Sie wussten nicht, wie und warum er zu Tode gekommen war. Es hatte Gerüchte gegeben, denen Corazon natürlich keine Beachtung schenken wollte.
Er wird zu mir zurückkehren, sagte sie von Zeit zu Zeit. Er wird mich finden, mich retten. Du wirst schon sehen.
Blanca schloss die Augen. Er ist tot, dachte sie. Tot. Futter für die Würmer.
Aber auch sie konnte sich daran erinnern, dass Gustavo sie stets mit einer gewissen Zärtlichkeit behandelt hatte. Vielleicht hatte ihr Vater sie ja tatsächlich geliebt? Ihre Mutter sprach gern davon, dass Blanca ihrem Vater ähnlich sah.
Du hast sein Haar, Blanca, sagte sie immer wieder. Du siehst ihm ähnlich, Kleine, sehr ähnlich. Dein Vater ist ein schöner Mann.
Mit einem Seufzer trat Blanca an die Seite ihrer Mutter. Corazon zuckte zusammen, als ihre Tochter ihren Arm zu streicheln begann. Ihre Haut fühlte sich klebrig an vor Schweiß und Staub. Ein unangenehmer fischiger Geruch ging von ihr aus.
»Komm, lass uns baden gehen, Mama«, flüsterte Blanca ihr spontan ins Ohr.
Corazon sah ihre Tochter an. In ihren matten Augen blitzte einen Lidschlag lang Leben auf. Vor einiger Zeit, als sie hier angekommen waren, waren sie öfter am Fluss baden gewesen. Es gab da eine schöne Stelle, lauschig und verborgen vor ungewollten Blicken.
»Komm mit, ich wasche dir die Haare. Du hast so schöne Haare, Mama.«
Abwesend tastete Corazon nach einer der verfilzten Strähnen. Blanca nahm ihr Beutelchen mit Seife und dem Duftöl, das sie einmal geschenkt bekommen hatte, frische Kleidung und eine leichte Decke und steckte alles in eine Tasche. Dann ging sie zur Tür, nahm den Poncho ihrer Mutter vom Haken und legte ihn ihr um. Ihre Hände berührten dabei die knochigen Schultern Corazons, und für einen Moment hielt sie den Atem an. Sie musste darauf achten, dass ihre Mutter besser und regelmäßiger aß. Sie musste darauf achten, dass sie weniger trank, sonst würde sie sie schnell verlieren.
Und dann bin ich allein.
Behutsam führte Blanca ihre Mutter zur Tür. Corazon lächelte mit einem Mal.
»Ja, lass uns baden gehen, Blanca, du bist so ein gutes Kind.«
Die Stelle am Fluss war rasch erreicht. Die beiden Frauen setzten sich in den Sand der kleinen, von Buschwerk und Bäumen umstandenen Bucht, die das Wasser in Jahrmillionen aus dem Felsstein gewaschen hatte. Blanca legte die Tasche neben sich. Sie streifte ihr Kleid ab, löste dann ihr Haar und kämmte ihre dichten Locken mit den Fingern durch.
»Du hast sein Haar«, sagte Corazon wieder einmal. »Komm her, dreh dich zu mir, und lass dich ansehen. Erinnerst du dich eigentlich an ihn?«
Ohne eine Antwort zu geben, tat Blanca wie ihr geheißen. Corazon ließ das Haar ihrer Tochter durch ihre schlanken Finger gleiten.
»Er hatte so schönes Haar, er war ein so schöner Mann … Erinnerst du dich?«
Blanca nickte. Ja, sie erinnerte sich, dass ihr Vater stets gelächelt hatte, wenn sie seinen Blick gesucht hatte. Sie erinnerte sich, dass ihn die Frauen angesehen hatten. An viel mehr erinnerte sie sich nicht. Manchmal hatte er ihr über den Kopf gestrichen. Und er hatte nicht gewollt, dass sie sich in den pulperías herumtrieb. Wenn sie das tat, war er böse geworden.
»Ich habe gehört, er war ein Mörder.«
Corazon musterte ihre Tochter einen Moment.
»Zu uns war er immer gut«, sagte sie dann. »Für uns hätte er alles getan.« Sie zögerte. »Wenn ich einmal nicht mehr bin, musst du nach Buenos Aires zurückgehen. Du musst ihn suchen … oder seinen Bruder. Eduardo heißt er, er ist dir etwas schuldig, hörst du? Du gehörst zur Familie. Sie dürfen dich nicht wegschicken.«
Blanca nickte. Corazon runzelte die Stirn.
»Er hatte auch eine Schwester … Ana oder Anna … Weißt du noch, das Fest an jenem Abend, als wir ihn suchten? Das war das Haus seiner Schwester. Sein Bruder oder seine Schwester, einer von denen muss etwas für dich tun. Lass dich
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