Die Lagune Der Flamingos
Leben entkommen zu sein, dem sie gut drei Jahre lang ausgeliefert gewesen war.
Schon am Abend ihrer Ankunft wurde Ruth Zeuge einer Zusammenkunft der philanthropischen Gesellschaft, zu der auch Rahel Goldberg gehörte. Neugierig beschloss Jenny zu beobachten, wie die junge Frau reagierte. Wie immer kam Rahel vor ihren zahlreich erschienenen Freundinnen und Glaubensschwestern bald auf ihr Lieblingsthema zu sprechen.
»Wie werden diese Frauen also in ihr Elend gelockt?« Rahel hob anklagend den Finger. »Es ist die Strenge religiöser Regeln, es ist die verzweifelte wirtschaftliche Lage ganzer Familien und der Glaube daran, dass Ehefrauen ihren Ehemännern unter allen Umständen zu gehorchen haben.«
Ruth schenkte den Frauen schweigend Tee ein und reichte Gebäck herum.
»Natürlich«, fuhr Rahel fort, »drängen jene Regierungen Europas, die Länder wie Argentinien so harsch kritisieren, die jüdische Bevölkerung selbst an den Rand und setzen sie ständigen Angriffen aus. Was also«, sie blickte in die Runde, »soll es bringen, diese armen Frauen in ihre Länder zurückzubringen? Welchem schrecklichen Schicksal würden wir sie dann überlassen? Wer soll die schützen, denen man das Stigma der Prostitution eingebrannt hat? Zu welchem Vater, zu welcher Mutter, zu welchem Ehemann sollen sie zurückkehren? Einmal hier angekommen sind diese Frauen Ausgestoßene, abhängig von der Gnade des Staates. Wir, nur wir können diesen Frauen Freundschaft entgegenbringen und für ihre Rettung sorgen. Wenn wir standhaft sind.«
Während Rahel erhitzt innehielt und leises Beifallsklatschen aus dem Kreis der Frauen zu hören war, blickte Jenny zu Ruth hinüber. Sie hatte erwartet, dass diese sich über das freuen würde, was sie hier hörte, doch das Gesicht der jungen Frau blieb ausdruckslos. Es kam Jenny sogar so vor, als blicke sie ein wenig spöttisch drein.
Als Ruth an diesem Abend in ihre Kammer ging, war sie müde und wusste doch, dass sie wieder kaum Schlaf finden würde. Noch schenkte ihr eine kleine Öllampe tröstendes Licht, doch sie fürchtete sich schon vor der Dunkelheit, so wie sie sich als Kind davor gefürchtet hatte. Sie würde ihrer neuen Herrin allerdings sicher nicht erklären können, wieso das Öllämpchen schon nach einem Abend niedergebrannt war, deshalb zwang Ruth sich, das Licht zu löschen. Einen Moment lang blieb sie zitternd auf dem schmalen Bett sitzen. Der Raum war einfach eingerichtet, aber das machte Ruth selbstverständlich nichts aus. Sie hatte noch nie so viel Platz für sich allein gehabt, nie einen eigenen Tisch und ein eigenes Bett gekannt.
Mit einem leisen Seufzer stand Ruth auf und trat ans Fenster. Die Straße vor dem Haus blieb ruhig, auch hinter dem Haus hatte sie zuvor nichts entdecken können. Wenn sie nicht so viel Angst gehabt hätte, wäre ihr der Garten sicherlich als ein wunderschöner Ort vorgekommen. Es gab Orangen- und Zitronenbäume, einen Teich, eine kleine Brücke. Ganz hinten, im dritten Patio, befanden sich die Zimmer für die Dienerschaft, ein Badezimmer und der Raum mit dem Vorrat an Brennholz. Eigentlich hätte Ruth erwartet, dort untergebracht zu werden, doch Jenny hatte darauf bestanden, dass sie im Nachbarzimmer schlief.
Ruth trat etwas zur Seite und versteckte sich hinter dem Vorhang, um die Straße nochmals genauer zu inspizieren. Das rundliche Gesicht ihres Kindes schien plötzlich vor ihrem inneren Auge auf, große, dunkle Augen, braune Locken. Oh, sie hoffte so sehr, dass es ihrem kleinen Jungen gut ging.
Auf der Straße tat sich immer noch nichts. Nach einer Weile zwang sich Ruth, ihren Beobachtungsposten zu verlassen, und schlich zum Bett hinüber, als müsse sie es unter allen Umständen vermeiden, von jenen im Haus gehört zu werden.
Dabei hört mich hier oben ohnehin niemand.
Sie kroch unter die dünne Decke und zog sie sich bis zum Hals hoch. Die zierliche blonde Olga, die man mit ein paar anderen nach Rosario gebracht hatte, schob sich erneut in ihre Gedanken. Wie es ihr wohl ging? Sie waren Freundinnen geworden, bevor sie so abrupt auseinandergerissen wurden. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihr gehört.
Ruth wollte die Augen schließen, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Wenn sie die Augen schloss, dann sah sie ihr Kind vor sich, und das tat so weh … Sie musste sich endlich damit abfinden, dass sie ihren kleinen Sohn nie mehr wiedersehen würde.
Jenny saß in ihrem Schaukelstuhl, während sie sich in die Deutsche Arbeiterzeitung
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