Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
noch kälter werden«, sagte Antonio. »Und glaub nicht, dass ich dir meine Decke überlasse.«
»Sicher wird man mir auch eine geben.«
»Ich musste eine ganze Woche darum betteln, warum solltest du es besser haben?«
»Stimmt es denn?«
»Was?«, fragte Antonio irritiert.
»Dass du gebildet bist?«
Antonio verzog das Gesicht. Er dachte nicht gern daran zurück, denn es gehörte zu einem anderen, besseren Leben, das mit dem Tod der Mutter für immer beendet worden war. »Ich hatte früher mal Unterricht«, sagte er widerstrebend. »Lesen, Schreiben, Mathematik, außerdem Geschichte und ein bisschen Latein.«
»Also hast du reiche Eltern?«
»Sehe ich vielleicht so aus?«, gab Antonio zurück. »Mein Vater war Wollhändler, er hatte ein leidlich gutes Einkommen, doch er starb, als ich sechs Jahre alt war. Danach reichte das Geld noch eine ganze Weile, ich hatte fast drei Jahre lang Unterricht. Meine Mutter konnte gut nähen und sticken, sie hat die allerfeinsten Arbeiten angefertigt, ihre Dienste waren sehr gefragt.«
»Und dann?«
»Sie wurde krank und starb«, sagte Antonio.
Raffaele schwieg, und Antonio sah keinen Anlass, die Unterhaltung fortzusetzen. Nach einer Weile sank der Kopf des Alten vornüber, und rasselnde Atemzüge zeigten an, dass er eingeschlafen war, offensichtlich immer noch geschwächt von den Prügeln und vom Saufen.
Doch dann, gänzlich unerwartet, riss er den Kopf hoch und deklamierte mit volltönender Stimme: »Musa, mihi causas memora, quo numine laeso quidve dolens regina deum tot volvere casus insignem pietate virum, tot adire labores impulerit tantaene animis caelestibus irae?« 1
Antonio, der vor Schreck zusammengefahren war, musterte ihn ärgerlich. »Vergil kann dir hier auch nicht raushelfen.«
»Sieh an, du kennst den Meister?«
»Ich sagte doch, ich habe ein bisschen Latein gelernt.«
»Verstehst du dich aufs Rezitieren?«
»Nein«, sagte Antonio kurz angebunden.
»Schade. Ich könnte noch einen Assistenten und zweiten Hauptdarsteller brauchen.«
Antonio hatte mittlerweile eine ungefähre Vorstellung davon, was ein Intendant tat. »Ihr arbeitet auf einer Schaustellerbühne, nicht wahr?«
Der Alte richtete sich würdevoll auf. »Ich bin Eigner und Betreiber eines Theaters.« Er rieb sich das schlecht rasierte und von Schlägen verfärbte Kinn. »Natürlich interpretiere ich ebenfalls den einen oder anderen Charakter. Als Kaiser und Feldherr bin ich unerreicht. Aber auch als Odysseus mache ich eine gute Figur, jedenfalls sagt man das allgemein. Bislang konnte ich noch jedes Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißen.« Er rülpste und lächelte dabei gewinnend.
»Wo ist das Theater?«, fragte Antonio.
»Überall, mein junger Freund, überall.«
»Also ist es eine von diesen Wanderbühnen.«
»Du sagst das so abfällig«, meinte Raffaele tadelnd. »Hohe Kunst kennt keinen festen Standort. Sie will der ganzen Welt nahegebracht werden, und wie soll das angesichts der kulturellen Trägheit des Volkes gelingen, wenn nicht der Prophet zum Berge geht?« Er hielt inne. »Nun ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich plane, eine feste Bühne in Venedig einzurichten, aber dazu müsste ich erst mal hier rauskommen. Was hoffentlich nicht allzu lange dauert.« Er musterte Antonio prüfend. »Du wärst ein fabelhafter junger Marcus Antonius. Und wie überaus passend, dass du bereits fast so heißt wie er, das sollte dir helfen, dich bestens in die Rolle einzuleben.«
»Im Moment sitze ich hinter Gittern und kann niemandem was vorspielen außer dir. Was hast du getan, um hier zu landen?«
Raffaele stöhnte und rieb sich die Schläfen. »Ich kann es nur vermuten, mein jugendlicher Held. Ich habe ein Stück geschrieben. Ach, welche Mühe es mich gekostet hat, die Dialoge zu ersinnen! Die Kulissen und Kostüme zu entwerfen! Du musst wissen, all das gehört zu den Aufgaben eines Intendanten, denn nur, wer in der Dramaturgie und der Bühnenkunst bewandert ist, versteht sich auch aufs Inszenieren.«
»Was war mit dem Stück? Enthält es verbotene Szenen?«
Der Alte schaute kläglich drein. »Es war ein Schwank. Ich hatte damit einen enormen Erfolg in ganz Italien. Alle sahen das Stück und waren hingerissen. Bloß hier fiel es durch. Ich kann nur vermuten, dass es um die Schlachtszene ging.«
Antonio unterdrückte ein Grinsen. »Venedig hat die Schlacht verloren, wie?«
»Es war die Schlacht von Otranto«, verteidigte sich Raffaele. »Und Otranto fiel an die Osmanen, so war
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