Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
packte ihre Hand und bewegte den Dolch kurz und geschmeidig, und eine dünne rote Linie zog sich quer über Valerias Unterarm. Das Blut tröpfelte nur spärlich, es war lediglich eine Demonstration, wie exakt Cattaneo im Umgang mit seiner Waffe sein konnte. Sie würde nicht einmal eine Narbe zurückbehalten.
»Komm schon«, sagte er zu Carlo. »Zier dich nicht länger. Mein nächster Schnitt geht geradewegs über ihre Kehle, und er wird nicht nur ihre Haut ritzen, sondern sie das Leben kosten. Hilf ihr, Carlo. Nimm sie!«
Carlo verdrängte die brennende Scham und seinen Hass; er konzentrierte sich auf sein Verlangen, von dem er unmöglich sagen konnte, ob es schändlich oder rettend war. Tief Luft holend ging er hinüber zum Bett.
Dort, wo Antonio lag, konnte er manchmal Schritte hören, und hin und wieder tönte durch die vergitterte Maueröffnung hoch oben an der Wand auch das Glockengeläut, das ihm ebenso wie der ganzen Stadt in zuverlässigen Abständen den Tagesablauf anzeigte. Es waren diese Geräusche, die ihm klarmachten, dass das Leben draußen weiterging, als wäre nichts geschehen. Weder war die Zeit stehen geblieben noch die ewige Nacht hereingebrochen, auch wenn es ihm in den ersten Tagen so vorgekommen war. Er hörte die Glocken, zur Prim ebenso wie zur Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet, und manchmal, wenn der Wind günstig stand, auch das gedämpfte Nachtläuten der Klosterkirchen, in denen zur Matutin und Laudes gebetet wurde.
Nach wenigen Tagen im Kerker des Dogenpalastes hatte man ihn in dieses finstere Loch befördert, eines der externen Gefängnisse, die vom Rat der Stadt unterhalten wurden. Es hieß, dass die Verliese im Palazzo Ducale ständig überfüllt seien und dass bald ein neues Gefängnis gebaut werden sollte. Fraglich war allerdings, ob er das noch erleben würde; aller Voraussicht nach wäre er bis dahin entweder verhungert oder an Langeweile gestorben.
Antonio scharrte mit den nackten Füßen über das Stroh, das den Zellenboden an der Stelle bedeckte, wo er nachts schlief. Außer dem Stroh gab es noch eine mottenzerfressene Decke – der einzige Komfort in dieser erbärmlichen Umgebung. Hatte er sich wirklich jemals ernsthaft darüber ereifert, dass er auf einem stachligen Strohsack schlafen musste? Im Vergleich zu diesen paar armseligen Halmen und der stinkenden Decke war das der reinste Luxus gewesen!
Das Leben war, so hatte er inzwischen begriffen, eine Abfolge unvorhersehbarer Ereignisse, die immer nur zum Schlechteren zu führen schienen. Als kleines Kind hatte er auf weichen Kissen geschlafen und sich stets satt essen können. Nach dem Tode der Mutter hatte er zuerst gehungert und dann gestohlen, aber dafür war er frei gewesen. Und jetzt lag er hier in einem elenden Kerker und bekam den ganzen lieben langen Tag nichts Neues zu sehen, außer einem Kanten Brot, der ihm in der Frühe zusammen mit einem Becher Wasser durch eine Klappe an der Tür geschoben wurde; zum Sterben war es zu viel, aber zum Leben auf Dauer zu wenig. Der Hunger wütete so heftig in seinen Eingeweiden, dass er bereits angefangen hatte, auf dem Stroh herumzukauen.
Noch schlimmer als der Hunger war jedoch die völlige Ereignislosigkeit.
Der Kübel, in den er seine Notdurft verrichtete, wurde alle drei Tage abgeholt, eine Abwechslung, auf die er sich jedes Mal richtiggehend freute, auch wenn es dabei regelmäßig Prügel setzte, weil der Wärter es offenbar nicht ausstehen konnte, mit Fragen oder Forderungen behelligt zu werden.
Seit dem frühen Morgen – es musste ein Feiertag sein, denn von draußen hatte er schwach die Gesänge einer Prozession hören können – hatte er immerhin einen Zellengenossen, einen alten Mann, den sie wie einen Sack Lumpen durch die Tür geworfen hatten und der seitdem reglos an der Wand lag. In dem matten Licht, das von oben durch die Gitterstäbe drang, war zu sehen, dass der Alte mehr tot als lebendig war. Er war anständig genährt und, soweit es zu erkennen war, recht ordentlich gekleidet, mit einem leicht speckigen, aber gut sitzenden Wams, Beinkleidern ohne Löcher und ledernen Schnabelschuhen. Doch das war auch das einzig Positive, das über seine Erscheinung zu sagen war. Er stank durchdringend nach Wein und Bratfett, und sein Gesicht war übel zerschlagen. Als er einmal kurz zu sich gekommen war, hatte er einen Zahn ausgespuckt, einen Batzen blutigen Schleim herausgehustet und war wieder in Ohnmacht gefallen. Seit dem Nachmittagsläuten war er erneut wach,
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