Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
nun einmal der Lauf der Geschichte! Das musst du doch wissen, wenn du Unterricht hattest!«
»Jedes kleine Kind weiß es. Aber Otranto wurde schon ein Jahr später von den Venezianern zurückerobert!«
»Das wäre das glorreiche Ende des Stücks gewesen«, erklärte Raffaele niedergeschlagen. »Aber so weit kamen wir gar nicht.«
»Was ist geschehen?«
»Mein zweiter Hauptdarsteller wurde mit Schimpf und Schande verjagt, die Heldin der Geschichte mit unzüchtigen Beleidigungen überhäuft, die Kulissenschieber und der Chor wurden verprügelt, und ich selbst wurde verhaftet.« Der Alte betastete seine geschwollene Lippe und die blutverkrustete Nase. »Nachdem man mich bewusstlos geschlagen hatte.«
»Welche Strafe droht dir nun?« Antonio konnte sich nicht verkneifen, hinzufügen: »Doch nicht etwa das Folterseil?«
Raffaele schnaubte. »Musst du die harmlosen Scherze eines alten Mannes immer gleich auf die Goldwaage legen? Wahrscheinlich werde ich nur für ein paar Stunden an den Pranger gestellt.« Zweifelnd wiegte er den Kopf. »Ich hoffe bloß, dass man mich nicht verbannt; das machen sie immer mit unliebsamen Fremdlingen.«
»Du sprichst nicht wie ein Fremdling.«
»Ich wurde in Venedig geboren, aber da ich seit meiner Jugend jedes Jahr immer nur für wenige Wochen in dieser strahlendsten aller europäischen Metropolen weile, zählt das wohl nicht.«
»Meinst du, ich könnte vielleicht auch verbannt werden?«, fragte Antonio hoffnungsvoll.
»Du redest irre, mein Junge. Wie käme die Obrigkeit dazu, dir eine derart grausam schwere Strafe aufzubürden? Einem so frischen und unverfälscht venezianischen Blut? Nein, diese schlimme Ächtung wird dir erspart bleiben, so viel steht fest. Niemand wird sie dir vorenthalten, die miraculosissima civitas , wie Petrarca sie so herrlich treffend nennt. Sei guten Mutes! Das Ärgste, was dir angesichts deines falsch eingeschätzten Alters widerfahren kann, ist die für Diebstahl übliche Strafe, also der Verlust von Ohren, Nase oder Hand.«
»Ich danke dir für deine aufmunternden Worte«, sagte Antonio erbittert.
Raffaele lachte, doch Antonio konnte nichts Erheiterndes an der Situation finden.
Unter dem rostigen Gelächter des Alten überhörte er das Geräusch der sich öffnenden Zellentür. Verdattert fuhr er herum, als die barsche Stimme des diensthabenden Gefängniswärters laut wurde.
»Antonio Bragadin, mitkommen!«
»Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht Raffaele Correggio meint?«, warf der Alte ein.
»Halt’s Maul, du Schmierenkomödiant.« Der Wärter wandte sich an Antonio. »Kommst du, oder soll ich dich holen?«
»Nein«, sagte Antonio. Eilig rappelte er sich hoch. »Ich meine: ja. Damit will ich sagen: Ich komme schon, Ihr müsst mich nicht holen!« Er zögerte nicht, seine Worte in die Tat umzusetzen, und stolperte über seine Füße in dem Bemühen, dem Befehl des Wärters Folge zu leisten. Mühsam überwand er sich zu einer Frage. »Werde ich verhört?«
»In jedem Fall kriegst du eins auf die Nase, wenn du mich wieder mit deinen dämlichen Fragen plagst!«
»Ich will doch nur wissen, wohin Ihr mich bringt!«
Der Wärter, ein muskelbepackter Bursche im schweren ledernen Harnisch, hob drohend die Faust. Antonio duckte sich. »Schon gut, ich sag ja nichts mehr.«
»Denk an die Taufe«, sagte Raffaele.
Antonio, schon halb aus der Zelle getreten, blickte zurück. »Was meinst du?«
»Du bist doch getauft, oder?«
»Natürlich bin ich getauft«, gab Antonio verständnislos zurück.
Der Wärter packte ihn hart beim Arm und riss ihn hinaus in den engen Gang vor den Zellen. Mit einem Fußtritt beförderte er die Tür wieder ins Schloss und schob den gewaltigen Eisenriegel vor.
»Was immer der verrückte Alte damit sagen wollte – die Taufe wird dir auf jeden Fall helfen, der ewigen Verdammnis zu entgehen«, meinte er feixend, während er Antonio vorwärtsstieß, in Richtung der steinernen Treppe, die von den unterirdischen Verliesen hinauf ans Tageslicht führte. »Denn nur wer getauft ist, hat Aussicht darauf, in den Himmel zu kommen. Vorausgesetzt, er übersteht das Fegefeuer.«
»Was wollt Ihr damit sagen?« Antonio spürte seinen Herzschlag bis in die Kehle. »Bringt Ihr mich zum Palazzo Ducale? Zur Folterkammer?«
»Sagte ich nicht, du sollst still sein?« Der Wärter versetzte ihm einen Hieb zwischen die Rippen, der ihm den Atem nahm. Während er noch nach Luft rang, legte der Mann ihm Hand- und Fußketten an.
Antonio unternahm einen
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