Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
sondern die Leute, mit denen ich zusammengewohnt habe.«
»Ich weiß«, sagte Raffaele zu seiner Überraschung.
»Was weißt du?«
»Dass du früher mit so einer Art Bande ein Zimmer geteilt hast.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Ach, keine Ahnung. Einer von deinen Katzenburschen, was weiß ich. Venedig ist ein Dorf, mein Junge.«
Dem hatte Antonio nichts entgegenzusetzen. Wer nur neugierig genug war, konnte so ziemlich alles über Personen erfahren, für die er sich interessierte.
»Es gab auch ein Mädchen in deiner Wohngemeinschaft, nicht wahr?«, meinte Raffaele.
Antonio schoss ein Bild durch den Kopf, von ungezähmten roten Locken, einem sommersprossigen Gesicht und Augen, in denen sich das Blau eines lavendelfarbenen Himmels spiegelte.
»Sie soll sehr schön gewesen sein«, fuhr Raffaele fort. »Mit herrlichem blonden Haar.«
Antonio ertappte sich dabei, wie er den Alten verständnislos von der Seite anblickte. Erst mit Verzögerung begriff er, dass nicht Laura, sondern Valeria gemeint war. Natürlich. Wie hätte Raffaele auch von Laura wissen sollen. Niemand hatte erfahren, dass Laura ein Mädchen war, nur er, Valeria und Carlo. Die Beschreibung schön hatte indessen tatsächlich allein Valeria gebührt. Sie war wie ein funkelnder Edelstein, der die Aufmerksamkeit aller Männer im Sestiere auf sich lenkte. Die blonde Grazie, die sich gemeinsam mit dem Schwarzen für ein Leben an der Seite eines aufgeblasenen Patriziers entschieden hatte. Antonio dachte immer noch gelegentlich darüber nach, wie er dem Mistkerl die zwei Monate Gefängnis heimzahlen sollte, doch er hatte diese Frage einstweilen zurückgestellt.
Zweifellos hätte er Cattaneo einen kindischen Streich spielen können, zum Beispiel seine Prachtgondel versenken oder sein kostbar bemaltes Haus mit Hühnerdreck beschmieren. Doch damit wären die vielen Wochen des Hungers und der Angst bei weitem nicht ausgeglichen. Er würde sich eine bessere Vergeltung ausdenken. Und er konnte darauf warten. Nicht von ungefähr hieß es, Rache sei ein Gericht, das kalt am besten schmeckte.
»War sie dein Liebchen?«, fragte Raffaele.
Antonio blickte geistesabwesend auf. »Wer?«
»Die schöne blonde Maid.«
»Das geht dich nichts an.«
»Habt ihr gemeinsam gestohlen?«
Wieder musste Antonio an Laura denken. »Nein«, sagte er. » Ich habe gestohlen. Sie hat nur versucht, zu überleben.«
»Und, hat sie es geschafft?«
»Ja, sie ist wohlauf.« Zumindest auf Laura bezogen war dies die Wahrheit, denn Antonio kannte Crestina gut genug, um zu wissen, dass es Laura und ihrem Bruder dort an nichts mangelte. Was Valeria betraf, mochte allein der Himmel wissen, wie es ihr wirklich ging. Sie hatte bei ihrer Begegnung gelacht, ihr blondes Haar zurückgeworfen und bezeichnend auf ihre feinen Gewänder gedeutet. Mit ihren aufreizenden Gesten hatte sie beweisen wollen, wie gut sie es getroffen hatte, doch in ihren Augen hatte ein gehetzter Ausdruck gestanden, den er früher dort nicht wahrgenommen hatte. Aber genau wie damals lebte sie auch heute ihr eigenes Leben. Was sie tat, ging ihn nichts an.
»Sie hat einen reichen Mann gefunden«, sagte Antonio.
»Aha. Jemand, der ihr mehr bieten kann als du.«
Antonio machte sich nicht die Mühe, auf diesen erfolglosen Versuch einer Neckerei einzugehen. Für ihn war das Thema abgeschlossen. Schweigend betrachtete er die Umgebung.
Sie hatten den Canal Grande erreicht. Das Boot glitt an der Riva del Carbon und der Riva del Ferro entlang, vorbei an den großen Palazzi mit den verschnörkelten Marmorsäulen und Friesen, den aufwändigen Kranzgesimsen und sorgsam in die Fassaden eingearbeiteten Schmuckplatten. Bunt bemalt, mit hohen Fenstern aus leuchtendem Glas und vergoldeten Wappen zeugten sie von dem Reichtum, der ihre Entstehung ermöglicht hatte. Wie immer konnte Antonio sich an all der Pracht nicht sattsehen, ließ sich einfangen von der ästhetischen Perfektion, die so unglaublich war, dass sie eher wie ein Ergebnis von Zauberei wirkte als eines von solider Handwerkskunst. Anmutig erhoben sich die Fassaden der Paläste aus dem Wasser, gekrönt von spitzenartig durchbrochenen Verzierungen. Mit märchenhafter Leichtigkeit trotzten sie dem Sog der Wellen, so elegant und filigran, dass sie über dem Wasser zu schweben schienen. Mit ihren strahlenden Fensterbögen und weißen Marmorinkrustationen blendeten sie förmlich das Auge des Betrachters – und erweckten wachsenden Neid.
»Dir fallen eines Tages noch die
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