Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
seinen Humpen ab und untermalte das von ihm entworfene Schreckensszenario mit wilden Gebärden. »Sie reißen mir die Kette mit dem Blut Christi vom Hals, und als Nächstes wollen sie mir die Gurgel aufschlitzen! Ich kann die Mörder gerade noch beiseitestoßen und fliehen!«
»Das wäre ... eine glückliche Wendung.« Antonio hielt sich den Weinbecher vor das Gesicht, um seine Verlegenheit zu verbergen.
»Es wäre ein furchtbares Drama!«, stieß Raffaele hervor. »Denn die Reliquie wäre dann fort! Und unsere Wette damit nichtig, egal ob du gewinnst oder verlierst! Angenommen, du gewinnst sie, was wohl als absolut sicher gelten darf – ich könnte dir meinen Einsatz in diesem Falle nicht mehr aushändigen. Du wärest demzufolge nicht mehr verpflichtet, dich um mich zu kümmern, wenn ich alt und schwach bin!«
»O doch«, sagte Antonio mit fester Stimme. »Das wäre ich sehr wohl.«
»Also ... ähm, warum denn?«, erkundigte Raffaele sich vorsichtig.
»Weil du mir dazu verholfen hast, dass ich überhaupt so weit gekommen bin.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du musst es auch nicht verstehen.«
Tatsächlich genügte es, dass er selbst es verstand. Es ging hier um das Prinzip von Ursache und Wirkung, mehr aber noch um göttliche Fügung. Das war leicht zu erkennen, jedenfalls dann, wenn man es wusste. Ein glückliches Schicksal hatte ihm die Reliquie schon vor der vereinbarten Zeit in die Hände gespielt, was der Beweis dafür war, dass er schaffen würde, was er sich vorgenommen hatte. Gott hatte entschieden, dass er der Besitzer sein sollte, und folglich musste Gott gleichzeitig in seinem weisen Ratschluss festgelegt haben, dass er sein Ziel bis zum Ablauf der fünf Jahre erreichen würde. Genauso war es gekommen, fast wie bei einer Prophezeiung.
»Mach dir keine Gedanken mehr, ob du mir die Reliquie geben kannst oder nicht. Wozu brauche ich sie, wenn ich einen Palazzo am Canal Grande habe? Wenn ich mir dort ein Haus kaufen kann, habe ich so viel Geld, dass auch noch genug für eine Reliquie übrig ist. Falls ich dann noch eine will.«
»Du meinst, ich bleibe auch unter deinem Schutz, wenn ich die Wette verliere – sogar dann, wenn mir der Wetteinsatz bis dahin abhanden kommt?«
Antonio nickte und prostete dem Alten zu. »Ich werde dich halten wie meinen eigenen Vater.« Er besann sich. »Nun, sagen wir, wie einen Onkel.« Der Wein war fast kalt geworden, und rasch trank er seinen Becher leer. »Lass uns die Reliquie einfach vergessen, ja? Behalt sie, verschenk sie – tu damit, was du willst.«
»O ja«, sagte Raffaele inbrünstig. »Wenn du es sagst, dann machen wir es so.«
In seinem Gefühlsüberschwang sprang er auf und begann zu Antonios Schrecken, mit volltönender Stimme aus Boccaccios Fiammetta zu rezitieren. Das Murren einiger schläfriger Gäste, die sich noch in der Schankstube aufhielten, ignorierte er ebenso wie Antonios resigniertes Stirnrunzeln, als dieser sich erhob, um seinem Weggefährten eine gute Nacht zu wünschen.
Nachdem Raffaele noch bis weit nach Mitternacht für sich allein weitergezecht und Verse deklamiert hatte, kam er am nächsten Morgen schlecht aus den Federn, was dazu führte, dass sie um ein Haar das Schiff verpassten. Der Kapitän stand missgelaunt an der Reling, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Wir wollten schon vor einer Stunde auslaufen, Messères! Ist das die Art von Zuverlässigkeit, mit der Ihr arbeitet?«
Statt sich zu entschuldigen, drückte Mosè ihm einen Beutel Dukaten in die Hand, das vereinbarte Frachtgeld, bevor er wortlos in der ihm zugewiesenen Kabine verschwand. Antonio blickte sich um, während die Griechen hinter ihm wortlos über die Landungsbrücke an Bord trampelten. Das Schiff war neu, eine große Karacke, die neben Wein und Weizen aus Kreta auch Vollblüter von der arabischen Halbinsel transportierte. Auf dem letzten Zwischenhalt in Fiume war als zusätzliche Fracht eine Ladung Pelze hinzugekommen – und die Passagiere, die als zahlende Gäste ebenfalls den Gewinn der Betreiber steigerten. Das Schiff segelte unter genuesischer Flagge, für ein Konsortium, das von mehreren Handelshäusern unterschiedlicher Nationalitäten gebildet wurde. Es war üblich, dass sich Kaufleute zusammentaten, um ein Schiff auszustatten und die Fahrten zu finanzieren. Auf diese Weise ließ sich das Risiko eines Verlustes verringern. Die Kosten wurden bei solchen Handelsfahrten auf mehrere Schultern verteilt, und die Gewinne waren, je nach Ziel und
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