Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
nach Angelicas Tod als Mitbewohnerin der Hütte zugewiesen hatte, musste alles wegwischen. Sie hatte es klaglos getan, doch der gequälte und angeekelte Ausdruck auf ihrem Gesicht war Crestina nicht entgangen.
Erst im Laufe des Tages hatte sie sich so weit erholt, dass sie sich aufrappeln und ohne Hilfe fortbewegen konnte.
Nun war alles getan, sie musste nur darauf warten, dass sie einschlief, langsam und sacht, wie in dem kleinen Gedicht, das sie früher Laura und noch früher Mansuetta zum Abschreiben gegeben hatte.
Et Cereale quidem nugarum in parte papaver
Hac memorare placet, quod raptu mesta puellae
Mater, ut immensis optata oblivia mentem
Exuerent curis, fertur Latona vorasse ...
Das lang ersehnte Vergessen würde sie bald von Kummer befreien. Von dem Schmerz, der ihr fast das Herz zerrissen hatte, als sie die Kinder zurückließ, vor allem Mansuetta, das Kind, das wie ihr eigenes war.
Crestina hatte nicht weinen wollen; sie hatte sich geweigert, diesen letzten Abschied in Schmerz und Selbstquälerei zu gestalten. Sie hatte einfach nur übers Meer schauen und dabei einschlafen wollen, den Rücken an die Felsen gelehnt und die Füße überspült von den Wellen. Doch nun konnte sie nicht anders. Sie brach in Tränen aus und schluchzte ihr Elend laut hinaus. »Mansuetta, ach Mansuetta! Der Himmel möge mir vergeben, aber du fehlst mir so sehr!«
Sie weinte eine Weile, dann riss sie sich zusammen und wischte die Tränen fort, um wieder hinausschauen zu können, hinüber zu der strahlenden Stadt ihrer Träume.
Dann sah sie das Boot. Es war ein kleiner Segler, schnell und wendig, keiner der langsamen, behäbigen Sàndoli, die sonst immer mit Vorräten und gelegentlich auch mit neuen Kranken herkamen. Der Mann, der das Steuer bediente, war versehrt. Crestina sah die schwarze Augenklappe, als das Boot näher kam und vor den Felsen längsseits ging.
Der Mann warf eine Leine über einen Felsen, und als er dabei ein wenig zur Seite trat, gab er den Blick auf eine Frau frei, unter deren Haube leuchtend rotes Haar hervorquoll.
Crestina blinzelte ungläubig. Das musste eine Vision sein, bedingt durch die einsetzende Wirkung des Pulvers. Das Mittel, das sie eingenommen hatte, rief auch Halluzinationen hervor.
»Verzeiht«, rief die Frau mit den roten Haaren zu ihr herüber, während sie sich eine Brille vor die Augen hielt. »Könnt Ihr mir wohl sagen, wo hier auf der Insel eine alte Frau namens Crestina Ferro wohnt?«
Anstelle einer Antwort hob Crestina eine zitternde, verunstaltete Hand und streifte sich die Kapuze herunter, um ihr zerstörtes Gesicht zu entblößen.
Die meisten Leprösen trugen auf der Insel verhüllende Gewänder, weite, sackartige Umhänge mit angenähten Kapuzen. Zu wissen, dass man wie die scheußliche Karikatur eines Menschen aussah, war eine Sache; sich von früh bis spät auf diese Weise zu zeigen, eine andere. Dabei war es völlig gleichgültig, dass alle anderen auch nicht viel besser aussahen. Oder bald so aussehen würden, wenn sie lange genug lebten. Mit dem Aussatz ging immer das Bedürfnis einher, ihn zu verstecken.
Wie aus weiter Ferne hörte sie den gellenden Entsetzensschrei, den Mansuetta ausstieß. »Mutter!«
Crestina sah, wie Mansuetta die Brille fahren ließ und Anstalten machte, aus dem Boot zu springen, doch der Mann packte sie beim Arm und hinderte sie daran. »Nein«, sagte er in unnachgiebigem Ton. »Wir hatten eine Vereinbarung, und daran hältst du dich. Nur vom Boot aus.«
Crestina starrte ihre Ziehtochter an wie eine Erscheinung, immer noch nicht sicher, ob sie vielleicht einem Trugbild aufsaß.
Mansuetta sackte weinend in den Armen des Mannes zusammen, und er hielt sie auf eine Weise, an der Crestina erkannte, wie viel ihm die junge Frau bedeutete. Mansuetta wiederum ließ sich mit einer Selbstverständlichkeit von ihm umarmen, die umgekehrt auf dasselbe schließen ließ. Diese beiden waren ganz offensichtlich ein Paar. Crestina fühlte, wie tiefe Dankbarkeit sie durchströmte.
»Sprich«, sagte sie. »Sprich rasch, ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt!«
»Mutter«, stieß Mansuetta zwischen abgehackten Schluchzern hervor. »O Mutter, was ist nur geschehen?«
»Ich habe Lepra, wie du unschwer erkennen kannst«, sagte Crestina ruhig. »Mach dir keine Sorgen um mein Gesicht und meine Hände, es tut nicht weh.« Sie hielt es für besser, nicht extra zu erwähnen, wie es um sie stand. Womöglich würde Mansuetta sonst gar nicht mehr aufhören zu
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