Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
San Lazzaro. Es wurden Umhänge und Decken geschickt, Brot und Wein, Kerzen, Kohlen und Holz, sogar hin und wieder ein Ochse zum Schlachten oder gedruckte, fromme Traktate zum Lesen.
Es gab auch einen Priester auf der Insel – natürlich war er einer der ihren –, der in dem baufälligen Kirchlein, das sich inmitten der Hütten der Bewohner erhob, jeden Sonntag die Heilige Messe las und auf Wunsch täglich die Beichte abnahm und Andachten hielt.
Crestina schaute auf ihre klauenartig verbogenen Hände. Der Krug, den sie eben leer getrunken hatte, war ihren Fingern entglitten und zu Boden gerollt, ohne dass sie es bemerkt hatte, wie zum Zeichen, dass nun bald alles Schwere von ihr weichen würde. Das Mittel würde in kurzer Zeit wirken; sie merkte bereits, wie ihre Glieder schwerer wurden und ihr Herz hin und wieder holprig schlug, so als würde es allmählich müde.
Der Abschied fiel ihr leicht. Lazzaro hatte ihr nie Heimat werden können.
Ganz anders Venedig. Manchmal meinte Crestina, im Sonnenlicht goldene Reflexe herüberschimmern und den Campanile hoch aufragen zu sehen, vor dem Gewirr unzähliger Dächer und anderer Kirchtürme, und bisweilen, wenn der Wind von Nordwesten kam, glaubte sie sogar die Gesänge zu hören, die bei den Andate zu Ehren der Heiligen angestimmt wurden.
Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sie sich mit solcher Inbrunst nach den Kindern gesehnt hatte, dass sie an den Strand geeilt war und hinübergestarrt hatte zu der leuchtenden Lagunenstadt. Das Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen, und es hatte so wehgetan, dass sie hätte schreien können.
Aus den Wellen, die an den felsigen Strand schlugen, stieg Gischt auf und benetzte ihre Füße. Crestina sah es wohl, aber sie spürte es kaum. Einige der Zehen waren bereits abgefallen, desgleichen Teile ihrer Finger. Ihre Hände waren verkrümmt und verdreht wie knorrige alte Stöcke, und so benutzte Crestina sie auch – vorsichtig und immer in der Sorge, etwas abzubrechen. Reste von Gefühl hatte sie noch in den Handrücken, und wenn sie sich damit über das Gesicht fuhr, spürte sie dort die narbigen Veränderungen. Wülste und Senken, Beulen und eingezogene Krater, die mit den Erscheinungen des Alters nicht das Geringste zu tun hatten. Sich in ein hässliches Monstrum zu verwandeln hatte ihr nicht viel ausgemacht; alle hier waren hässlich, die einen mehr, die anderen weniger. Eher ging es darum, wer noch gehen, seine Glieder gebrauchen und den anderen, die bereits zu schwach waren, um sich selbst zu helfen, beistehen konnte. Es ging darum, wer sich an den Sonntagen noch in die Kirche schleppen oder die Gärten hegen konnte. Wer sich ohne fremde Hilfe Mahlzeiten zubereiten, mit einem Boot in der Lagune fischen, im Sommer noch Vieh hüten und im Winter ein Feuer in Gang halten konnte.
Sie hatte das meiste davon noch eine ganze Weile geschafft, obwohl sich die ersten Anzeichen der Krankheit bereits wenige Monate nach ihrem Eintreffen auf der Insel gezeigt hatten. Angefangen hatte es mit einem tauben Gefühl in Fingern und Füßen, fast so, als seien sie eingeschlafen. Die Schmerzen ihrer Gicht hatten darüber nachgelassen, sodass sie zuerst nicht allzu unglücklich deswegen war. Dann waren jedoch Verletzungen hinzugekommen, diese wiederum bedingt durch das fehlende Empfinden in den betreffenden Stellen. Sie hatte heiß nicht mehr von kalt unterscheiden können, hatte nicht mehr kontrollieren können, wie fest oder wie vorsichtig sie einen Gegenstand greifen oder halten musste, ohne sich zu stoßen, zu schneiden oder zu stechen. Die vielen kleinen Wunden hatten sich rasch in Geschwüre verwandelt, und diese wiederum in Deformation und Verkrüppelung.
Dennoch hatte sie ihren Alltag bewältigt, sogar dann noch, als Angelica schließlich völlig außerstande gewesen war, sich von ihrem Lager zu erheben. Der endgültige Verfall hatte erst nach Angelicas Tod eingesetzt, beinahe so, als sei mit den Verpflichtungen zugleich das letzte bisschen Lebenskraft verschwunden.
Crestina konnte nur noch unter großen Mühen aufstehen, ihr Gang war kaum mehr als ein Kriechen, und trotz Zuhilfenahme einer Krücke kam es ständig zu Stürzen. Heute in der Frühe hatte sie zum ersten Mal, seit sie hier auf der Insel war, kein Kochfeuer anzünden können. Viel schlimmer aber war, dass sie es nicht mehr rechtzeitig auf den Abtritt geschafft hatte, und zu ihrem Entsetzen hatte sie nicht einmal die Spuren des Malheurs beseitigen können. Die Frau, die man ihr
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