Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
geworfen werden, in der Hoffnung, dass das die Seuche eindämmt.«
»Wie lange ...?« Antonio brachte es nur mit Mühe heraus. Ihm war übel vor Entsetzen.
»Bis Ihr es wisst?« Der Arzt zuckte die Achseln. »Einen Tag bei der schwarzen Pest, zwei bis drei bei der Beulenpest. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Auftreten kann es in beiden Formen.«
Antonio atmete tief durch. Damit stand sein Plan fest. Drei Tage würden sie hier ausharren und warten, ob noch jemand von ihnen die Anzeichen der Krankheit zeigte. Und in der Zwischenzeit würde er sicherstellen, dass sie eine Passage auf einem Schiff bekamen.
Der Arzt verabschiedete sich und ging zu der Gondel zurück, mit der er gekommen war. Mansuetta folgte ihm, so schnell sie es mit ihrer hinkenden Gehweise eben noch vermochte. Sie hielt ihn auf, bevor er ablegen konnte.
»Wartet!«, rief sie. »Ich muss Euch noch etwas fragen!«
»Bleibt stehen und kommt nicht näher. An mir klebt das Gift der Seuche.«
Sie gehorchte, bannte ihn aber mit ihren Blicken.
Simon seufzte. »Wenn es um diese alte Geschichte geht ...«
Sie starrte ihn trotzig an. »Diese Geschichte ist niemals alt. Nicht, solange ich nicht die Wahrheit erfahre!« Etwas ruhiger, aber nicht weniger eindringlich fuhr sie fort: »Die Sachlage hat sich geändert, Dottore. Angelica Querini ist gestorben. Mein Schwager Antonio erzählte es mir gestern. Und wisst Ihr, von wem er es erfahren hat? Von Messèr Querinis neuer Gattin. Der Prokurator hat sich vor zwei Monaten wieder vermählt.« In einer Geste der Hilflosigkeit ballte sie die Hände zu Fäusten. »Monna Angelica ist verstorben. Aber meine Mutter ist dennoch nicht zurückgekommen! Dottore, ist sie ebenfalls tot? Bitte, Ihr müsst es mir sagen! Wir müssen die Möglichkeit haben, an ihrem Grab zu beten! Wenigstens das müsst Ihr uns gewähren!«
Der Arzt senkte den Kopf. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Sie ist am Leben, nicht wahr? Meine Mutter lebt!«
Simon schwieg.
»Dottore«, sagte Mansuetta beschwörend. »Wenn sie noch lebt, müsst Ihr mir sagen, wo sie ist! In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie uns, sie müsse sich um jemanden kümmern, der ihrer Hilfe mehr bedürfe als wir. Das muss Monna Angelica gewesen sein, aber die ist jetzt tot! Meine Mutter ... sie hat nun niemanden mehr!«
»Sie hat mich auf meine Ehre schwören lassen, es für mich zu behalten«, sagte Simon, die Augen immer noch gesenkt. »Wenn Euer Schwager erfahren hat, dass Monna Angelica gestorben ist – hat man ihm denn dann nicht auch gesagt, wo sie zuletzt lebte?«
»Nein«, sagte Mansuetta langsam. »Er sagte, das habe er nicht herausbekommen.« In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Simon hatte Crestina schwören müssen, ihren Aufenthaltsort nicht zu verraten ... Warum? Was sollte sie daran hindern, die Menschen wiederzusehen, die sie über alles liebte?
Unversehens erkannte sie die einzig mögliche Wahrheit. »Sie ist auf San Lazzaro«, stieß sie hervor. »Und sie muss dort bleiben, weil ... O mein Gott!«
Simon hob den Blick und schaute sie voll an. »Von mir habt Ihr es nicht erfahren.«
Doch sie hatte sich bereits von ihm abgewandt und hinkte eilig zurück ins Haus.
Crestina hatte sich das kurze Stück von der Hütte bis zum Strand hinuntergeschleppt, wo sie sich gegen einen Felsen sinken ließ und über das Meer schaute. Das Szenarium für diesen Tag hatte sie sich schon seit langem ausgemalt, obwohl sie zunächst unentschlossen gewesen war, wo sie es tun sollte. Sie hatte sich schließlich für den Strand entschieden, oder genauer: für den Blick aufs Meer. Aber hin und wieder hatte sie auch daran gedacht, in einen der Gärten zu gehen, die mit verschwenderischem Grün bewachsen waren. Hier gediehen nicht nur Gemüse und Obst in erfreulicher Vielfalt, sondern auch Kräuter und Blumen in einer solchen Farb- und Duftfülle, dass man sich unter anderen Voraussetzungen hier wie im Paradies hätte fühlen können.
Dabei war San Lazzaro gewissermaßen das Gegenteil des Paradieses. Ein malerisches kleines Eiland in der südlichen Lagune, dem Lido vorgelagert und gewiss eine der hübschesten zu Venedig gehörenden Inseln, war San Lazzaro zugleich ein Ort strengster Isolation. Hier waren jene unter sich, die von der Gesellschaft abgeschoben und bis zu ihrem Ende ausgegrenzt waren.
Die Bewohner der Insel mussten indessen keineswegs hungern oder sonst wie darben. Die Kirche vergaß ihre Kinder nicht; jede Contrada sandte mildtätige Gaben nach
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