Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Hühnerbein achtlos fallen ließ, direkt vor Lauras Füße. Er machte keine Anstalten, es wieder aufzuheben, sondern torkelte lauthals singend weiter.
Laura bückte sich und hob das gebratene Fleischstück auf. Es war noch heiß und völlig unversehrt, bis auf die Stelle, wo der Betrunkene abgebissen hatte. Sie blickte dem Mann nach, doch er war bereits im Gewühl verschwunden. Der Duft der Hühnerkeule war betäubend und so verlockend, dass sich in ihrem Mund sogleich Speichel sammelte. Laura zögerte nicht lange, sie schlug die Zähne in das köstlich knusprige Fleisch und kaute gierig. Der Hunger war seit Monaten das Schlimmste, und sie hatte sich, anders als an die meisten anderen Schikanen, nicht daran gewöhnen können. Fleisch gab es nur an hohen Festtagen, Süßspeisen so gut wie nie. Die Portionen waren knapp bemessen, die Suppe meist dünn und wässrig, das Brot hart und manchmal sogar madig. Trotzdem aß sie jedes Mal alles bis auf den letzten Bissen auf, weil der Hunger sie dazu zwang. Sie fragte sich bereits jetzt bange, was wohl werden würde, wenn Matteo von Lodovicas Milch nicht mehr satt wurde. Er hatte die ersten Zähnchen bekommen. Die Amme hatte schon davon gesprochen, dass er bald feste Nahrung brauchte.
Bratfett triefte ihr über das Kinn, und sie wischte es sorgfältig mit der Hand weg, bevor es ihr Gewand beschmutzen konnte. Wenn sie mit Fettflecken auf dem Kleid zurückkehrte, würde irgendjemand es riechen und sie bei Suor Arcanzola anschwärzen, obwohl Laura sich in der letzten Zeit alle Mühe gab, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen.
Das Musikstück, das der Flötist soeben anstimmte, hatte sie schon gehört, es war eines der Lieder, die häufig von den Gondolieri gesungen wurden. Sie summte die Melodie mit, wippte auf den Füßen und wiegte sich im Takt, während sie den Hühnerschenkel bis auf den Knochen abnagte.
Ein Stelzenläufer stakste in der Menge umher, das geschminkte Gesicht zu einem breiten Lachen verzogen. Unwillkürlich dachte Laura an jenen Nachmittag im letzten August, als sie hier auf der Piazza ebenfalls einen Stelzenläufer gesehen hatte. Er hatte der verwachsenen Frau mit den roten Haaren beim Verkauf von Kräutermedizin geholfen.
Ob es derselbe Stelzengänger war wie im Sommer?
Entschlossen verdrängte sie die Gedanken an den damaligen Tag. Sie würde nichts mehr daran ändern, egal, wie lange und wie oft sie deswegen grübelte.
Ein Mädchen ging vorbei und blieb nur wenige Schritte von Laura entfernt stehen. Sie war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt und so schön, dass Laura den Knochen aus dem Mund nahm, um sie anzustarren.
Ihr blondes Haar hing offen bis auf die Hüften herab. Sie war nicht maskiert oder verkleidet; das einzige Zugeständnis an den Karneval bestand darin, dass sie ihre Lippen und Wangen geschminkt und ihre Augen dunkel umrandet hatte, aber auf eine geschickte Art, die es kaum auffallen ließ, dass sie geschminkt war. Sie war in Begleitung eines Mannes, der bedeutend älter war als sie, wahrscheinlich hoch in den Zwanzigern oder auch bereits Anfang der dreißig. Er trug einen Turban als Verkleidung und hatte sich die Wangen mit Kohlenstaub bestrichen.
»Wir können später zu mir gehen«, meinte das Mädchen. Ihre Stimme klang besänftigend. »Lass uns noch ein bisschen hier Karneval feiern! Es ist der letzte Tag heute!«
»Ich will es aber jetzt«, widersprach der Mann. Er war betrunken, seine Stimme klang verwaschen. »Wir können es auch irgendwo in einem Hinterhof tun. Du machst es mir mit dem Mund, und danach können wir weiterfeiern.«
»Und ich sage dir, ich will jetzt feiern.«
»Nein, wir machen, wie ich es sage. Ich bezahle schließlich, oder nicht? Also ist es mein Recht!«
»Du hast noch nichts bezahlt, und du hast überhaupt keine Rechte, was mich betrifft.«
»Wirklich?« Der Mann packte das Mädchen bei den Haaren und schleifte es unter die Säulen bis zur Wand, wo er sie gegen die Mauer stieß, als wäre sie ein Bündel Lumpen. Zu Lauras Entsetzen zog er gleichzeitig einen Dolch und setzte ihn ihr an die Kehle.
»Nimm die Röcke hoch«, herrschte er sie an.
»Wir können unmöglich hier ...«
»Tu es, oder ich ramme dir meinen Dolch in den Hals. Es wird niemanden scheren. Eine Hure weniger auf der Welt, was macht das schon.«
Laura hatte den Hühnerknochen fallen lassen. Nervös wischte sie die Hände an ihrem Überkleid ab, und als ihr einfiel, dass sie sich nicht mit Essensfett beschmutzen
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