Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
doch er hatte es kategorisch abgelehnt. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, ihm doch einen Besuch auf der Piazza abzutrotzen, hatte er Husten und Fieber bekommen und musste das Bett hüten. Er hatte ihr versprochen, sie zum nächsten Fest mitzunehmen.
Wie immer spürte Laura den scharfen Schmerz des Verlustes, wenn sie an ihn dachte. Der Tod der Eltern hatte nur wenig von seinem Schrecken verloren, auch wenn die Bilder mit der Zeit ein wenig verblasst waren.
Ihr Vorhaben, am Giovedì grasso zur Piazza San Marco zu gehen, um den Sturz der Schweine vom Campanile und die rituelle Tötung des Bullen mitzuerleben, hatte sich auch in diesem Jahr zerschlagen, weil Suor Arcanzola mehrere Mädchen wegen Ungehorsams zu einer außerplanmäßigen Reinigungsaktion abkommandiert hatte. Laura hasste das Putzen, aber es war auch nicht schlimmer als manches andere. Dass diese Strafaktion jedoch ausgerechnet am Karnevalsdonnerstag stattfand, war eine Niedertracht, die sie mehr ärgerte als all die anderen Gemeinheiten in der letzten Zeit.
Immerhin war der Karneval noch nicht zu Ende, und vielleicht war der heutige Faschingsdienstag sogar der ausgelassenste Tag von allen. Er war ein Staatsfeiertag, und so konnten die Leute schon am frühen Morgen alle närrischen Freiheiten genießen. Außerdem war es wärmer als in der vergangenen Woche, in der es stark geregnet hatte und überall Pfützen gestanden hatten.
Heute war kein einziger Tropfen gefallen; die Luft war beinahe lind, und Laura meinte sogar, bereits einen Hauch von Frühling zu spüren. Der Wind, der vom Meer hereinstrich, war noch kühl, doch auf eine Art, die einen nicht zum Frösteln brachte, denn die Wärme der Nachmittagssonne wirkte noch nach.
Auf der Piazza herrschte ein Gedränge, als hätte sich die gesamte Bevölkerung der Stadt auf der weiten Fläche zwischen Dogenpalast, Prokuratie und Basilika sowie rund um den Campanile versammelt. Das Karnevalstreiben war so dicht, dass man sich kaum dazwischenschieben konnte, ohne angestoßen zu werden.
Laura betrachtete entzückt die Verkleidungen der Menschen, fantasievolle Masken von Stieren, Hunden, Katzen oder prächtig gefiederten Vögeln, mit glitzerndem Tand bestickte Frauenmasken aus Samt und diabolisch geschnittene Halbmasken mit Federbesatz. Auch die Umhänge und Wämser waren bunt verziert, mit Glasperlen, Tüchern, Fell oder einfach nur Lumpenstückchen. Die meisten Feiernden hatten bereits reichlich dem Alkohol zugesprochen; nicht wenige der Umherziehenden wankten grölend einher oder hielten sich an den Säulen fest, oftmals nur, um einen besseren Stand zu gewinnen, während sie sich übergeben mussten.
Musikanten mit Flöten, Trommeln und Zupfinstrumenten hatten sich unter den Arkaden versammelt und spielten für die Menge zum Tanz auf. Singend und lachend bewegten sich die Zuhörer gruppenweise im Takt der Musik. Überall gab es verliebte Paare, die einander in den Armen lagen und Küsse tauschten. Hier und da ging es auch recht handgreiflich zur Sache, doch die wirklichen Exzesse, über die im Heim hin und wieder getuschelt wurde und von denen Laura nur vage Vorstellungen hatte, würden sich bestimmt erst später in der Dunkelheit abspielen.
Auf der Piazza gab es wie an den Markttagen Buden, an denen Getränke und Speisen verkauft wurden. Jeder kam auf seine Kosten, egal, ob er lieber Wein, Schnaps oder Wasser trank. In kleinen Garküchen wurden über glühenden Kohlen Fische und Fleischstücke gegrillt, die mit frischem Brot serviert wurden.
Der Duft stieg Laura in die Nase und brachte ihren Magen zum Knurren. Das Mittagessen war lange her, und Abendbrot würde es erst nach dem Vespergebet geben. Geld besaß sie nicht, keinen einzigen Bagattino. Lodovica hatte manchmal eine Hand voll Münzen in der Tasche; sie holte sich einmal wöchentlich ihren Ammenlohn bei der Scuola ab – und gab es zumeist schon auf dem Heimweg für Zuckerzeug und Kuchen aus, von dem am Ende des Tages schon nichts mehr übrig war. Da sie für die Dauer eines ganzen Jahres in dem Heim Kost und Logis frei hatte, kümmerte es sie nicht weiter. Als Amme war sie eine der wenigen, die immer satt zu essen bekamen, und Geld bedeutete ihr ohnehin nicht viel; sie war zufrieden, wenn sie Matteo in den Armen halten konnte.
Einer der betrunkenen Kostümierten kaufte sich eine Hühnerkeule und biss hinein, während er dicht an Laura vorüberging. In der anderen Hand hielt er eine Flasche, aus der er einen Schluck nahm, während er das
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