Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
die Hände abhacken?«, fragte Laura beklommen. Suor Arcanzola hatte mehrfach erzählt, dass dies die Strafe für Diebe war, und Laura hatte auch schon früher davon gehört, als ihre Eltern noch lebten.
»Nicht beim ersten Mal und nicht, bevor sie vierzehn sind. Sie werden eine Weile in einem Verlies schmoren, dann steckt man sie wahrscheinlich in eine Besserungsanstalt der Mönche, wo sie Wassersuppe zu essen kriegen, täglich grün und blau geschlagen werden und so lange beten müssen, bis sie den gesamten Rosenkranz vor- und rückwärts hersagen können.«
»Also so ähnlich wie im Waisenhaus.«
»Genauso.«
»Warst du früher auch im Waisenhaus?«
Valeria nickte. »Ist zum Glück lange her.« Ihr Gesicht hatte sich verschlossen. Sie betastete die Wunde an ihrem Hals und betrachtete anschließend ihre Finger. Sie blutete nicht mehr, trotzdem stand ein hasserfüllter Ausdruck auf ihrem Gesicht.
»Dem Kerl soll in der Hölle der Schwanz abfaulen!«
In einer einzigen fließenden Bewegung stemmte sie sich vom Pflaster hoch, und Carlo, der im Hintergrund gewartet hatte, glitt wie ein Schatten an ihre Seite.
Aus einem der benachbarten Häuser kam ein Mann und zündete mit einem glimmenden Kienspan die Fackeln an, die in Halterungen an der Fondamenta steckten. Er war gut gelaunt und strahlte die Kinder an. »Feiert ihr Karneval?«, rief er herüber.
Laura sah, wie Valeria den Mann musterte, ihn dann aber offensichtlich für nicht interessant genug hielt.
»Komm, Carlo«, sagte sie. »Lass uns den Rest vom Karneval genießen.«
Sie wandte sich zum Gehen und bedachte Laura über die Schulter hinweg mit einem leicht spöttischen Lächeln. »Mach’s gut, armes Waisenmädchen. Lass dir nicht allzu übel mitspielen.«
Laura wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und offenbar erwartete Valeria auch keine Antwort, denn ohne zurückzuschauen verschwand sie um die nächste Ecke. Carlo hingegen blickte Laura noch einmal an, bevor er Valeria folgte.
Laura hob die Hand und winkte ihm kurz zu. Danach starrte sie lange zu der Stelle hinüber, wo die beiden verschwunden waren.
Das Waisenhaus war zwar die Einrichtung eines Hospizes, unterstand aber der Verwaltung eines der zahlreichen Klöster, von denen es in der Stadt sowie den Außenbezirken mehrere Dutzend gab. Das Kloster, das vor rund dreißig Jahren gegründet worden war, lag in Santa Croce und wurde von Franziskanerinnen betrieben, doch das Waisenhaus befand sich nicht innerhalb der Klostermauern, sondern in einer benachbarten Gasse ohne Kanalzugang. Es war ein schmales, baufälliges Holzhaus, in dem knapp zwei Dutzend Kinder Platz fanden. Die Betreuung wurde zum Teil aus Mitteln der Scuola, zum Teil aus Mitteln der Hospizverwaltung sowie aus Klostergeldern finanziert, was dazu führte, dass sich zuweilen niemand so recht zuständig fühlte. Die Kinder blieben weitgehend sich selbst überlassen. Es gab im Haus nur eine von der Hospizverwaltung eingesetzte Betreuungsperson, eine Frau nahe den sechzig, die es meist vorzog, in ihrer Kammer zu dösen, statt sich den Kindern zu widmen.
Die Größeren hatten sich um die Kleinen zu kümmern, und für die ganz Kleinen gab es zwei Ammen – Lodovica nicht mitgezählt –, die indessen die meiste Zeit zu Hause bei ihren eigenen Familien verbrachten und nicht in dem Heim schliefen. Die Aufseherin, Monna Paulina, bereitete für die Kinder die Mahlzeiten zu, meist aus den Resten, die in der Klosterküche abfielen. Zwei Mal die Woche brachte ein Bediensteter der Contrada Lebensmittel für die übrigen Mahlzeiten, zu denen es selten etwas anderes gab als spärliche Rationen von Brot, billigem Fisch oder Käse.
Monna Paulina leitete die Kinder überdies bei der Reinigung der Wäsche und des Hauses an, doch auch das geschah eher unregelmäßig und ohne dass dabei Wert auf Gründlichkeit gelegt wurde. Mittwochs und sonntags holten zwei Nonnen die Kinder in der Frühe ab und führten sie zur Beichte oder zur Messe in die benachbarte Kirche.
Hin und wieder liefen Kinder aus dem Heim weg, um sich in den Gassen Venedigs allein durchzuschlagen, doch dafür kamen regelmäßig neue hinzu. Diejenigen, die blieben und nicht an schlechter Ernährung oder Krankheiten starben, kamen bei Erreichen des zwölften Lebensjahres entweder in andere – nach Geschlechtern getrennte – Heime oder wurden als Mägde oder Knechte in Haushalten und Klöstern untergebracht, eine Zukunft, die den meisten Kindern als erstrebenswertes Ziel vor
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