Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
Uhrturm wandten sie sich nach rechts und liefen durch das angrenzende Gassengewirr nördlich der Basilika, bis das Mädchen nach einer Weile schwer atmend stehen blieb und sich an eine Hauswand lehnte. »Hier können wir ausruhen«, sagte sie. Neugierig wandte sie sich zu Laura um. »Wie heißt du?«
»Laura. Und du?«
»Valeria. Und das ist Carlo.«
Laura betrachtete den schwarzen Jungen. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, schien er noch um einiges gewachsen zu sein, er überragte sie um vier Handbreit oder mehr. Ob schwarze Menschen schneller wuchsen als andere?
»Danke für deine Hilfe, Carlo«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Er hob lediglich die Schultern. Das Messer hatte er in eine Schlaufe an seinem Gürtel geschoben. Die langen Arme hingen locker an seinen Seiten herab, dünn und sehnig unter dem verschlissenen Hemd. Die Füße, die unten aus den grob gewebten Beinkleidern herausschauten, waren nackt, aber mit einer so ledrigen Hornschicht bewachsen, dass es aussah, als wären sie besohlt.
»Es war gut, dass du heute in meiner Nähe warst, Carlo«, fuhr Valeria im Konversationston fort. »Meinst du, er wird den Bütteln noch was über uns erzählen können?«
»Mann tot«, sagte Carlo. Seine Stimme war dunkel und samtig, und zugleich war sie unterlegt von einem seltsam kehligen Klang, der die Fremdartigkeit seines Äußeren unterstrich.
»Gut gemacht«, meinte Valeria fröhlich. Zu Laura meinte sie: »Carlo hat so eine Art, einem Sicherheit zu geben, weißt du. Oft ist er nicht weit entfernt, auch wenn man es nicht merkt. Er schafft es irgendwie immer, sich zu verstecken, darauf versteht er sich wie niemand sonst. Und dann taucht er auf, wenn man gar nicht mit ihm rechnet.«
Laura schluckte. Der Tod des Mannes schien dem Mädchen nicht das Geringste auszumachen, und das flößte ihr Angst ein. Gleichzeitig war sie dankbar für die rechtzeitige Hilfe Carlos und außerdem seltsam erleichtert, weil er sich nach seiner dramatischen Flucht im letzten Jahr durchgeschlagen hatte und wohlauf war.
Mittlerweile hatte sich die Dämmerung herabgesenkt, und in den Gassen wurde es merklich dunkler und allmählich auch kühler. Schnapsdunst, Rauch und der Geruch nach gebratenem Fleisch lagen in der Luft. Sie befanden sich auf einem Kirchplatz, an dem ein breiter Kanal vorbeiströmte. Auch hier waren viele Passanten unterwegs, doch es herrschte bei weitem nicht so ein Gedränge wie auf der Piazza. Gondeln glitten über den Kanal, in denen weitere Menschen saßen, die lachten und sangen und zum Ufer herüberwinkten.
»Wo wohnst du?«, wollte Valeria wissen. Sie war an der Wand hinabgerutscht und lehnte mit den Schultern an der Mauer, einen Zipfel ihres Gewandes gegen die Wunde an ihrem Hals drückend und den Blick auf Laura geheftet.
»In einem Waisenhaus«, sagte Laura. »Ich muss zur Vesper wieder dort sein, da wird kontrolliert und Essen verteilt. Und wo wohnt ihr?«
»In einem Mietshaus am Corte Cavallo, in der Nähe der Chiesa Madonna dell’Orto in Cannaregio.«
»Hast du Eltern?«
»Keine Ahnung. Falls ja, haben sie vergessen, sich mir bekannt zu machen.«
»Wohnt ihr alleine? Ich meine, ganz für euch? Ohne dass es jemand verbieten will?«
Valeria zuckte die Achseln. »Manchmal gibt es Ärger, aber damit muss man leben.«
»Gefällt es euch in dem Haus?«
»Im Moment ist es eine Zumutung; neulich ist bei uns auf dem Dach die Altana abgebrannt, das ganze Haus ist verrußt, und es stinkt immer noch zum Erbarmen nach Qualm. Aber sonst kann man nichts gegen das Wohnen und die Leute dort sagen. Wir haben unsere Ruhe. Vor allem, seit Antonio letzten Sommer diesem Schwein von Bader gezeigt hat, wozu ein kleines scharfes Messer gut ist.« Sie betrachtete Laura abwägend. »Und was ist mit dir? Gefällt es dir im Waisenhaus?«
»Nein, ich hasse es!«, entfuhr es Laura. »Wenn ich Geld hätte, würde ich weglaufen.« Sie holte Luft. »Dort, wo ihr wohnt – muss man da viel bezahlen für einen Schlafplatz?«
Valeria strich sich das Haar aus der Stirn. »Komisch, dass du das fragst. Wir hätten gerade Plätze frei. Letzten Sommer ist ein Mädchen gestorben, und vorige Woche erst sind zwei Brüder ausgezogen.«
»Wo sind sie hingegangen?«
»In den Kerker. Der eine wurde beim Klauen erwischt. Dann mischte der andere sich ein, und in der ganzen Aufregung wusste auf einmal niemand mehr, wer der Dieb war. Sie sind Zwillinge, weißt du. Also hat man beide eingesperrt.«
»Wird man ihnen
Weitere Kostenlose Bücher