Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
in dem formlosen Kittel war ein schmaler Schatten vor dem Fenster neben der Tür. Sie lächelte ihm zu, und mit einem Mal war ihr Äußeres nicht länger von farblosem Grau, sondern strahlend und einnehmend. Wenn sie lächelte, sah sie nicht aus wie die alte Frau, die sie seiner Ansicht nach war, sondern wie jemand, der noch viel vom Leben vor sich hatte.
»Hast du schon Hunger?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er inbrünstig. »O ja!«
»Dann schlage ich vor, du lässt die Kräuter liegen und putzt dir die Nase, und anschließend setzen wir uns rasch zu Tisch.«
Damit waren alle Gedanken über den jüdischen Kaufmann fürs Erste vergessen.
Laura stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Ausblick auf die Mole zu bekommen. Sie hatte einen guten Platz an der Meerseite der Piazzetta ergattert, und wenn sich nicht vorhin die Kaufmannsfamilie mit ihren zahlreichen Kindern zwischen sie und den Kai geschoben hätte, wäre die Sicht auf die Anlegestelle perfekt gewesen. Der Bucintoro , die vergoldete Prachtbarke des Dogen, war bereits vor der Mole vertäut worden, und Laura wollte auf keinen Fall verpassen, wie der höchste Würdenträger der Stadt inmitten seines Gefolges die prunkvolle Galeere bestieg.
Aber noch war es nicht so weit. Auf der Piazzetta hatte sich ein Spalier aus edel gewandeten Amtsträgern und Patriziern gebildet, die den Festzug des Dogen erwarteten. Auf einem hölzernen Podest standen die Musiker und spielten zum nahenden Beginn der Andata alli due Castelli auf, mit Flöten, Trommeln, Lauten und Trompeten.
Eines der Kinder aus der Kaufmannsfamilie stellte seinem Vater eine Frage zu der Feier.
»Nein«, sagte der Kaufmann, der sich direkt vor Laura aufgebaut hatte und ihr den Rücken zuwandte, »die Sensa ist nicht das Fest der Himmelfahrt, sondern das Fest der Meereshochzeit. Die Stadt feiert es nur zufällig jedes Jahr an Himmelfahrt, weil das ein passender Tag dafür ist, warm und sonnig, wie es sich für so eine prächtige Ausfahrt unseres Dogen geziemt.«
Der Kaufmann war stämmig, rotgesichtig und in blauen Festtagssamt gekleidet, ebenso wie seine Frau, die verschwitzt und hektisch versuchte, ihre Kinderschar im Auge zu behalten.
In ihrer Haltung und mit ihren argwöhnischen Blicken erinnerte sie Laura an Monna Pippa, und unwillkürlich fragte Laura sich, ob die frühere Nachbarin noch manchmal an sie dachte. Ob sie sich je den Kopf darüber zerbrach, dass sie zwei Kindern das Zuhause weggenommen hatte, oder ob es ihr – was weit eher wahrscheinlich war – herzlich gleichgültig war?
Vermutlich hatte sie sich ohne schlechtes Gewissen mitsamt ihrer Brut in den kunstvoll bemalten Räumen der Monteverdis ausgebreitet und sich dabei gedacht, dass es ihr gutes Recht wäre, denn schließlich gehörte das Haus ja den Filacenovas. Laura war davon überzeugt, dass Monna Pippa damals nach dem Tod der Mutter die Gunst der Stunde genutzt hatte, um das Dokument über das Wohnrecht der Monteverdis verschwinden zu lassen.
Es spielte im Grunde keine Rolle mehr, da niemand es je würde beweisen können. Dennoch hatte die seither verstrichene Zeit das Unrecht nicht einen Deut gemildert. Der einzige Trost für Laura war, dass das Leben im Waisenhaus bald enden würde. Im Oktober war ihr elfter Geburtstag, und sie würde sich eine Anstellung suchen können. Matteo wäre dann alt genug, um ohne Amme auszukommen, wenngleich Laura noch keine Ahnung hatte, wer sich dann um ihn kümmern sollte. Sie mochte groß und kräftig genug sein, um den ganzen Tag lang körperlich hart zu arbeiten, aber sie konnte unmöglich gleichzeitig auf ihren kleinen Bruder aufpassen. Im Grunde war sie bereits fest entschlossen, Lodovica mitzunehmen, und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht überlegte, wie es zu bewerkstelligen war. Sie würden irgendwo eine Kammer mieten, sie selbst würde zur Arbeit gehen und Lodovica zu Hause auf Matteo achtgeben. Vielleicht könnte sie noch einen Säugling in Pflege nehmen, das würde zusätzliches Geld bringen, sodass sie es irgendwie gemeinsam schaffen konnten, über die Runden zu kommen.
»Der Doge fährt immer zu Himmelfahrt mit dem Bucintoro auf das offene Meer hinaus«, erläuterte der Kaufmann seinem Sohn. » Fino fuora delli do castelli . Er feiert dort die Vermählung mit dem Meer.«
Eine seiner Töchter prustete ungläubig, was ihr einen strafenden Blick der Mutter eintrug.
»Nur symbolisch natürlich«, fuhr der Kaufmann fort. »Er fährt hinaus bis zu San Nicolò und
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