Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman
wenn sie das Grauen in Worte fasste.
Valeria sprach nie darüber, wie sie zur Waise geworden war, und Antonio redete nicht über den Tod seiner Mutter oder seiner Schwester. Sie alle hatten dunkle Stellen in ihrem bisherigen Leben.
»Du hast damals anderen Jungen gesehen«, sagte Carlo. »Das war Fremder. Ich bin hier, er war dort.«
»Wie meinst du das?«, wollte sie wissen, doch Carlo zuckte nur die Achseln.
Sie versuchte, es zu begreifen, indem sie sich klarmachte, dass ihr eigenes neues Leben sie ebenfalls in einen anderen Menschen verwandelt hatte. Abgesehen davon, dass sie stahl und sich als Junge ausgab, hatte sie auch erstaunliche andere Fähigkeiten entwickelt, die zu erproben sie sich früher nicht einmal hätte vorstellen können. Sie rannte schneller als die meisten Jungen – eine nicht zu verachtende Begabung, wenn man vor wütenden Händlern flüchten musste –, sie konnte klettern wie ein Affe und auf den schmalsten Mauern balancieren, ohne dabei auch nur ein einziges Mal aus dem Tritt zu geraten, und sie vollführte zur eigenen Erbauung Räder und Überschläge, bis sie selbst nicht mehr unterscheiden konnte, wo ihre Arme und Beine waren.
Hätten ihre Eltern noch gelebt und wäre sie noch bei ihnen, hätte sie vermutlich nichts von alledem gelernt. Sie war meist dafür getadelt worden, dass sie in einem fort herumsprang, sodass sie es am Ende von sich aus vermieden hatte. Erst nachdem sich ihr ganzes Leben so vollständig verändert hatte, hatte sie den Bewegungsdrang in sich wieder entdeckt.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie nachdenklich. »Wenn man seine Vergangenheit hinter sich lässt, passt ein neuer Name gut dazu. Ich heiße ja auch für alle nur noch Lauro.«
Matteo war satt. Laura aß die Reste des Fisches auf, bevor eine der allgegenwärtigen Möwen auf die Idee kommen konnte, ihr die Bissen wegzuschnappen. »Wir ändern uns, weil wir unser Leben ändern, stimmt’s?«
Carlo zuckte nur die Achseln, während er sich vorbeugte und Matteo mit beiden Armen von sich streckte. »Er will scheißen.«
»Warte, ich grabe ein Loch.« Sie scharrte rasch ein paar Hände voll Sand zur Seite, und während Matteo sich mit angestrengter Miene über der Kuhle erleichterte, klatschte sie in die Hände und lachte ihn an. »Das machst du wunderbar! Wetten, dass du es schnell lernen wirst, genau wie alles andere?« Freudestrahlend wandte sie sich Carlo zu. »Er ist unglaublich klug, findest du nicht?«
»Sehr«, gab er breit grinsend zurück, während er den Kleinen mit ausgestreckten Armen von sich weg hielt. »Kann alleine über Loch im Sand scheißen.«
Laura schlug ein paar Mücken auf ihren Armen tot, dann stand sie auf, weil sie den Drang verspürte, sich zu bewegen. Nach ein paar Weitsprüngen im Sand schlug sie ein Rad nach dem anderen, bis sie das Gefühl hatte, dass sich Erdboden und Himmel in einem Wirbel vereinten.
Ihr war heiß, und am liebsten hätte sie das Hemd ausgezogen, doch in Ufernähe kreuzten einige Boote, und sie lebte ohnehin schon in der beständigen Furcht, jemand könne sie als Mädchen entlarven. Wenn sie sich vorsah, würde sie es sicher noch ein paar Jahre geheim halten können, vorausgesetzt, ihr wuchsen nicht allzu große Brüste, wovon sie allerdings bei ihrer schmalen Statur nicht ausging. Bisher hatte sie kaum Ansätze von Knospen an ihrem Oberkörper ertasten können. Antonio hatte einmal scherzhaft gesagt, sie sei dünn wie ein Draht und ebenso zäh. Sie hatte sich nicht gerade geschmeichelt gefühlt, aber es hatte ihr immerhin die Gewissheit vermittelt, problemlos als Junge durchzugehen.
Nachdem sie sich ausgetobt hatte, nahm sie Matteo wieder auf den Arm.
»Ich glaube, wir können zurück«, sagte sie. »Valeria hat gesagt, sie wäre bis zur Vesper fertig, und es hat vorhin schon geläutet.«
Auf dem Rückweg schöpften sie Wasser aus einem Brunnen und tranken aus den hohlen Händen.
Laura hatte, bevor sie zum Strand aufgebrochen war, die eingekauften Lebensmittel in der Kammer unter ihrem Strohsack verstaut. Sie hoffte, dass Valerias Freier sich nicht darüber hergemacht hatte. Verboten hätte Valeria es ihm sicher nicht, falls er zufällig darauf gestoßen wäre; sie hätte sich ganz einfach nicht dafür verantwortlich gefühlt. Es war ihre Art, stillschweigend davon auszugehen, dass jeder für sich und seine Belange allein zuständig war. Mochte sie sich auch dafür eingesetzt haben, dass Laura bei ihnen wohnen konnte, so hatte Laura doch
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