Die Landkarte der Finsternis
von den verspäteten Lachern stören zu lassen, die vereinzelt hier und da noch aufflackern.
»Ich habe die Nikes aus dem Karton genommen, hab sie mir von allen Seiten angesehen. Sie waren so schön, dass ich es kaum aushalten konnte. Ich stellte mir schon vor, wie ich unter dem Fenster meiner Nachbarin vorbeistolziere. Aber â als ich mit der Hand in die Hosentasche fuhr, um zu bezahlen, da bemerkte ich, dass mir einer mein halbes Vermögen geklaut hatte.«
»Oh ScheiÃe!«, ruft ein kleiner Junge, ganz im Bann der Erzählung.
»Hoffentlich hast du den Dieb noch erwischt!«, wirft der DreiÃigjährige im Gipsverband ein.
»Wie sollte ich den in dem ganzen Gedränge denn wiederfinden? An dem Tag war eine irre Menschenmenge auf dem Markt.«
»Ganz einfach«, sagt der alte Haudegen. »Du hättest nur einen Einäugigen suchen müssen. Nur ein Einäugiger macht halbe Sachen.«
Von neuem donnert eine Lachsalve los. Bruno lacht der Form halber mit. Doch in Gedanken ist er weit weg. Später wird er mir gestehen, dass er befürchtete, die sudanesischen Behörden würden ihn, da er keine Papiere hatte, nach Frankreich ausweisen, und genau deshalb war er auch nicht scharf auf ein Gespräch mit unserem Sicherheitsoffizier gewesen.
Wir bleiben noch bis Mittag bei den Rekonvaleszenten, und ich lerne die erstaunlichsten Menschen kennen. Ich frage mich, ob sie, die dem Tod eben erst von der Schippe gesprungen sind, ihr Unglück schon wieder vergessen haben oder ob sie vielleicht über ein Gegenmittel verfügen? Aus welcher Asche sind sie wohl auferstanden? Sie haben ein unglaubliches Talent, alle Widrigkeiten kleinzureden. Ihr steter Kraftquell ist ihre Mentalität, eine einzigartige, archaische Mentalität, geschmiedet im brodelnden Magma der alten Mutter Erde. Eine Mentalität so alt wie der Urschrei des Lebens, die bisher alles bravourös überstanden hat, ferne Vorzeiten ebenso wie die Irrungen der Moderne. Bruno hatte nicht ganz unrecht. Im Innersten dieser Wesen brennt eine unverwüstliche Flamme, die ihnen, sobald die Finsternis sie zu verschlingen droht, stets aufs Neue Licht spendet und Lebensenergie. Es ist nicht zu übersehen, dass sie instinktiv etwas verinnerlicht haben, was mir für immer unbegreiflich bleibt, es sei denn, ich stellte endlose, zumeist müÃige Wahrscheinlichkeitskalkulationen an. Ich kann viel von diesen Wesen lernen. Sie lachen über ihre Enttäuschungen wie über einen schlechten Scherz. Sind froh, einfach nur da und beisammen zu sein, sind erfüllt von Solidarität und Mitgefühl, und wenn sie sich über die eigene Naivität lustig machen, dann nur, um ihren Sinn für die Nichtigkeit der Dinge zu schärfen und künftig besser dagegen gewappnet zu sein. Ich beneide sie. Beneide sie um ihre Reife, die doch der Niederschlag schlimmster Nöte und grausamster Prüfungen ist; um die philosophische Abgeklärtheit, mit der sie Traumata und Katastrophen meistern; um den Humor, mit dem sie einem ungerechten, verräterischen Schicksal trotzen, dessen Mechanismus sie in gewisser Weise entschlüsselt haben.
Mittagszeit. Noch immer kein Flugzeug in Sicht. Die Nachricht, dass jede Minute mit seiner Landung zu rechnen ist, hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Nacken sind vom vielen In-den-Himmel-Starren schon ganz steif. Die Aussicht auf den Vogel hat sie alle mobilisiert. Die Kinder kommen kreischend angeschossen, die Frauen halten schirmend die Hand über die Augen, die Männer stemmen die Fäuste in die Hüften und lassen die Arbeit ruhen. Doch weit und breit kein Flieger am Horizont. Schon eine Stunde Verspätung. Ist die Delegation aus Khartum überhaupt gestartet? Zwar lässt der Offizier keinen Zweifel daran, doch wir befürchten das Schlimmste. ChrisÂtophe Pfer schaut alle fünf Minuten auf die Uhr, und jedes Mal wird die Furche auf seiner Stirn ein wenig tiefer. Seine zahlÂreichen Telefonversuche sind alle ins Leere gelaufen. Etwas Schwerwiegendes muss vorgefallen sein. Bruno, des Nägelkauens müde, ist zu seinen Brüdern zurückgekehrt. Elena ist zweimal kurz aufgetaucht, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, und dann wieder verschwunden. Der Offizier klebt an seinem Funkgerät, dessen Knistern über Hunderte von Metern zu hören ist. Seine Soldaten vertreten sich rings um die Jeeps ihre eingeschlafenen Beine und ziehen an
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