Die Landkarte der Finsternis
mich, ihm zuzuhören.
»Als ich Paula verloren habe, dachte ich, das wäre das Ende. Sie bedeutete mir alles. Ich verdankte ihr meine ganze Lebensfreude. Sie war mein Glück, mein ganzer Stolz. Ich hätte alles gegeben für ein weiteres Jahr, einen Monat, ja nur einen Tag länger mit ihr. Aber es gibt Dinge, um die feilscht man nicht, Kurt. Paula ist gegangen, so wie täglich Tausende von Menschen gehen, die einen geschmäht, die anderen verehrt. So ist das Leben. Ob du Kummer hast oder nicht, traurig bist oder bankrott, es wird doch immer wieder Tag, und die Nacht lässt sich durch nichts aufhalten ⦠Paula ist jetzt seit fünf Jahren und zweiunddreiÃig Wochen tot, und noch immer denke ich morgens beim Aufwachen, dass sie an mich gekuschelt im Bett liegt. Dann erst merke ich, dass ich allein bin, werfe rasch die Bettdecke zur Seite und stürze mich in meine Arbeit.«
Waren es die Worte, die Hans gefunden hatte, oder war es der vibrierende Klang seiner Stimme, der mich im Innersten rührte, jedenfalls begannen plötzlich meine Schultern zu zucken, und Tränen liefen mir über die Wangen. Ich erinnere mich nicht, seit frühester Kindheit jemals wieder geweint zu haben. Doch seltsamerweise schämte ich mich nicht für meine Schwäche. Meine Tränen schienen die bittere Schwärze hinwegzuschwemmen, deren Gift das poröse Gewebe meiner Seele wie gallige Tinte durchdrungen hatte.
»Ja, so ist es gut«, ermunterte mich Hans.
Er drängte mich, zu baden, mich zu rasieren und umzuziehen. Dann bugsierte er mich in sein Auto und brachte mich in ein kleines Restaurant auÃerhalb der Stadt. Er erklärte mir, dass er nur kurz nach Deutschland zurückgekommen sei, um einen Streit mit der Industrie- und Handelskammer beizulegen und ein neues Projekt zu starten, das ihm sehr am Herzen liege, dass das alles höchstens zwei bis drei Wochen in Anspruch nehmen und er danach wieder in See stechen würde, diesmal in Richtung Komoren, wo er ein Krankenhaus zugunsten einer wohltätigen Organisation ausstatten wollte, deren Mitglied er war.
»Warum kommst du nicht einfach mit? Meine Yacht liegt in Zypern. Wir fliegen bis Nicosia, dann setzen wir die Segel mit Kurs auf den Golf von Aden â¦Â«
»Ich kann nicht, Hans.«
»Was hält dich denn ab? Die Weite des Meeres wird dir guttun. Es gibt keine bessere Therapie.«
»Bitte bedräng mich nicht. Ich gehe nirgendwohin â¦Â«
II.
Blackmoon
1.
Hans hat nicht übertrieben . Auf hoher See sind alle Orientierungszeichen, bar jeder Symbolik, auf ihre bloÃe Existenz reduziert, und alles findet zu seinem rechten Maà zurück. Auch ich habe mein Maà gefunden: Ich bin nur ein Wassertropfen unter Trillionen und Trilliarden von Tropfen. Alles, was ich zu sein oder darzustellen geglaubt habe, erweist sich als substanzlos. Bin ich nicht wie diese winzigen Wellen, die aus der Strömung entstehen und mit ihr vergehen, eine Illusion, die aus dem Nichts auftaucht und wieder ins Nichts eintaucht, ohne die geringste Spur zu hinterlassen?
Ich muss an meine Patientin denken, Frau Biribauer. Wie ist das mit dem groÃen Schlaf? Wenn er ist wie das Meer, wäre man versucht, alles zu vergeben und zu vergessen. Dann muss ich an Jessica denken und ertappe mich bei einem Lächeln.
Ich fühle mich schon ein wenig besser, als hätte das Wasser meine Traurigkeit fortgeschwemmt. Wie nach einem heiÃen Vollbad am Ende eines harten Arbeitstages. Mein Schmerz gewährt mir eine Art Aufschub; er muss sich recht kläglich fühlen inmitten dieser gewaltigen Wassermassen, in denen der Kummer so leicht über die Reling schwappt.
Seit zwei Wochen segeln wir nun schon mit Rückenwind an Bord einer zwölf Meter langen Yacht. Wir haben Zypern im Morgengrauen verlassen, bei prachtvollem Wetter, haben die schimmernden Fluten des Mittelmeers durchquert, bald von euphorisch kreischenden Möwen gejagt, bald von Geschwadern von Delfinen eskortiert. Jeder Tag zieht wie eine neue Segnung herauf, und wenn die Nacht uns der Welt und ihrem Chaos entzieht, schlieÃe ich die Augen und sauge den Geruch in meine Lungen ein, der aus der Tiefe aufsteigt wie eine Reminiszenz aus uralter Zeit. Ich habe meinen Seelenfrieden wiedergefunden.
Ich sitze gern auf dem Bootsrand und lasse meinen Blick über den Horizont schweifen. Durch beharrliche Kontemplation gelingt es mir, mich nach und nach von meinen
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