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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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entblößt und isoliert? Ist er in der Wüste oder die Wüste in ihm …? Ich sammle mich. Ich muss das Mühlrad in meinem Kopf zum Stillstand bringen. Ich bin viel zu angegriffen, um mich auf unbekanntes Terrain vorzuwagen.
    Nach zwei Stunden Blechgetöse und Kerosingestank neigt der Hubschrauber sich mit wirbelnden Rotorblättern zur Seite, richtet sich wieder auf und setzt zum Sinkflug an. Der Oberst begibt sich ins Cockpit und gibt den beiden Piloten die Richtung vor. Durchs Bullauge sehe ich eine Kolonne Kampffahrzeuge, die entlang einer Piste aufgereiht sind, dazu Soldaten und ein Stück weiter eine kleine Propellermaschine, vor der eine Delegation in Zivil uns beim Landen zusieht.
    Der deutsche Botschafter nimmt mich in Empfang, als ich aus dem Helikopter steige. Er stellt mir seine Begleiter vor, darunter Gerd Bechter. Alle sind bedrückt. Nirgends ein Journalist oder Kameramann. Ein hoher sudanesischer Offizier murmelt mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Seine Unterwürfigkeit macht mich wütend. Ich bin froh, als er wieder zurücktritt ins Glied. Verlange, dass man mich zu meinem Freund führt. Der Botschafter und seine Begleiter folgen einem jungen Offizier, der vorausgeht. Ich schleppe mich hinterher. Mir ist, als würden meine Schuhsohlen am Boden kleben. Ein Trupp Soldaten hält Ehrenwache vor einem Haufen Steine, die Gewehre auf zwei Gefangene gerichtet: Ewana, den Malariakranken, und den Fahrer des Motorradgespanns. Angekettet und in Handschellen sind beide in einem unbeschreiblichen Zustand. Gesicht und Gliedmaßen weisen Spuren von Misshandlungen auf, ebenso ihre Kleidung; man hat sie gefoltert. Ich komme direkt an ihnen vorbei, mustere sie verächtlich. Ewana senkt den Kopf, doch sein Komplize schaut mir frech ins Gesicht.
    Sechs einfache Gräber wölben sich aus der Erde. Manche sind von Schakalen oder Hyänen zerwühlt, die Soldaten haben den Rest besorgt. Die Leichen sind im Zustand fortgeschrittener Verwesung und kaum zu erkennen … Da liegt Moussa, der Boss, den Mund über seinem Goldzahn geöffnet, mit dem Einschuss mitten auf der Stirn … Und Hans, mein Freund Hans, in derselben Grube wie sein Entführer. Mit einer klaffenden Wunde an der Schläfe. Zwei schwärzlichen Flecken auf der Brust. Sein weißer Bart zittert im Lufthauch, seine Lider sind über seinen letzten Gedanken geschlossen. Ich frage mich, woran er wohl unmittelbar vor seinem Tod gedacht haben mag, welch allerletzten Schrei er mitgenommen hat, ob er sofort tot war oder eine lange, qualvolle Agonie durchlitten hat … Mein Gott! Was für ein sinnloser, überflüssiger Tod. Welch ein Verlust. Was soll man sagen angesichts der Absurdität dieser Situation? An wen sich wenden? Alle Worte der Erde kommen mir lachhaft vor und todtraurig. Ob ich zum Himmel aufsehe oder auf meine zitternden Hände starre oder auf die undurchdringlichen Mienen der Militärs und Offiziellen; ob ich schreie, bis mir die Stimme versagt, oder schweige, bis ich eins mit der Stille bin, es brächte ja doch alles nichts. Und außerdem, was bleibt mir denn noch, außer der Kraft, die Leiche meines Freundes anzusehen, und dem Mut, mir einzugestehen, dass ich zu spät komme?
    Â»Er war gekommen, um ein Armenkrankenhaus auszustatten«, sage ich zu den beiden Piraten.
    Ewana beugt noch ein wenig mehr seinen Nacken, während er zu Boden blickt.
    Ich hebe sein Kinn an, damit er mir in die Augen sieht, und wiederhole:
    Â»Er war gekommen, um den Armen und Mittellosen seine Hilfe zu bringen, völlig uneigennützig … Ist euch klar, was das heißt? Der Mann, der dort liegt, hat sein Vermögen und seine Zeit geopfert, um sich das Menschsein zu verdienen.«
    Â»Niemand hat ihn um irgendwas gebeten«, murrt der Fahrer des Motorradgespanns.
    Â»Wie bitte?«, entfährt es mir. Ich bin empört.
    Â»Du hast ganz gut gehört.«
    Einer der Offiziere verpasst ihm eine Ohrfeige. Der Pirat schwankt unter der Wucht des Schlags, aber er bleibt stur. Er brummt:
    Â»Dein Kumpel ist tot. Ewana und ich werden ihm bald nachfolgen. Man wird uns erschießen. Das ist der Preis, und wir werden nicht feilschen. Im Vergleich geht’s dir prächtig, also hör auf, uns zu nerven.«
    Wutentbrannt stürze ich auf ihn los. Um ihm die Augen auszukratzen, die Zunge rauszureißen, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen, zu zerquetschen. Doch meine Hände

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