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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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im Frühjahr bedecken, während ich es gerade umgekehrt mache?« Er hatte gar nicht so unrecht, mein Freund Hans. Was von dem, was man zu wissen glaubt, hat man wirklich verinnerlicht? Ich habe gedacht, Jessica sei der Mittelpunkt meines Lebens; nun ist Jessica nicht mehr, und die Erde hat nicht einen Millimeter geschwankt. Ich dachte, ich hätte eine schnurgerade Laufbahn vor mir und meine Zukunft fest im Griff, und merke jetzt, dass schon ein Nichts dieses Lügengeflecht zersetzt. Es gibt Regeln, die man befolgt, um über andere Regeln nicht nachdenken zu müssen; wir akzeptieren sie, weil sie so bequem für uns sind und uns glauben lassen, auf den Rest könnten wir dann verzichten. Man redet sich ein, dass das, was uns ins Konzept passt, per se alles verdrängt, was das nicht tut. Mein Leben lang habe ich felsenfest geglaubt, dass man Entscheidungen nach reiflicher Überlegung trifft, Entscheidungen, zu denen ich gestanden habe und die mich doch ausgebrannt haben, so wie die Glut das sichtbare und doch eitle Bemühen aufzehrt. Dabei ist jede Entscheidung ein Risiko, mit oder ohne Argumente … Also warum immer alles antizipieren wollen? Warum davon ausgehen, dass ich der ganzen Welt grollen werde, bevor ich überhaupt gelandet bin? Lassen wir die Dinge doch auf uns zukommen, statt ihnen hinterherzulaufen, oft sind sie gar nicht da, wo wir sie zu finden glauben .
    Wir erreichen Frankfurt gegen 16 Uhr. Der Pilot hat eine butterweiche Landung hingelegt. Am Bullauge ziehen verglaste Fassaden vorbei, Flugzeuge mit Passagierschleusen, Service-Fahrzeuge, vollgeladene Gepäckwagen, breite Busse und … die Sonne. Es ist schönes Wetter in meiner Stadt. Ich hatte mit bedecktem Himmel, Nieselregen und leichtem Wind gerechnet, stattdessen breitet ein strahlend schöner Nachmittag den roten Teppich vor uns aus. Wie das Gefühl beschreiben, das mich in dem Moment befällt, in dem das Rollwerk des Flugzeugs den heimischen Boden berührt? Unmöglich, es in Worte zu fassen. Unmöglich, es zu greifen. Eine sagenhafte Verwandlung hat von jeder Faser meines Wesens Besitz ergriffen, von jedem Blutstropfen in mir. Ich bin Millionen von Emotionen … Der Jet biegt auf eine Nebenbahn, umrundet mehrere kleine Blocks und bleibt endlich vor einem Gebäude stehen, das wie ein Empfangssalon aussieht. Journalisten warten ungeduldig hinter einer Schranke. Blitzlichtgewitter setzt ein, steigert sich noch, als ich aus dem Flugzeug trete. Die Bundeskanzlerin und einige Kabinettsmitglieder begrüßen mich am Fuße der Treppe. Da ich seit Khartum nichts mehr gegessen habe, ist mir ganz flau im Magen. Ich habe Mühe zu begreifen, was man mir zusäuselt. Da alle lächeln, lächle ich auch. Glück ist ansteckend. Brustkörbe nehmen mir die Luft zum Atmen, Arme bedrängen meinen Körper, Hände verschlingen meine Hände. Die Kanzlerin hat feuchte Augen. Sie ist tief bewegt. Sie sagt etwas zu mir, das im Geschrei der Reporter untergeht. Ich danke ihr. Ich höre mich irgendwelche Dankesworte für irgendwelche Dinge stottern. Hinter dem Stab der Offiziellen wartet geduldig die Familie Mackenroth; der Medienrummel, die Minister, die ganze Inszenierung bringt ganz offensichtlich ihre Trauer durcheinander. Später werde ich erfahren, dass die Familie den Wunsch geäußert hatte, alles möge unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor sich gehen, doch das Protokoll hat andere Prioritäten. Ich gehe auf Bertram zu, Hans’ ältesten Sohn. Ich kenne ihn seit Jahren. Wir fallen uns um den Hals. Eine kurze, aber herzliche Umarmung. Seine Frau, hinter ihrem schwarzen Schleier verschanzt, berührt flüchtig meine Fingerspitzen. Matthias, der jüngste Sohn, klopft mir auf die Schulter. Ich habe ihn zwei- oder dreimal gesehen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wo das gewesen ist. Ein verschlossener, rätselhafter Junge. Der Tod seines Vaters hat ihn schwer getroffen, und er meidet meinen Blick. Eine alte Dame, offensichtlich das Familienoberhaupt, beugt sich zu mir und flüstert mir zu: »Wir wollen gar nicht wissen, was passiert ist, Herr Krausmann. Hans ist tot, nur das zählt.« In ihrer leisen Stimme liegt die Entschiedenheit des strikten Befehls. Feuerwehrleute holen Hans’ Sarg aus dem Laderaum und transportieren ihn zu einem mit Blumen ausgelegten Katafalk. Wieder ein Blitzlichtgewitter. Jähe Unruhe im Familienclan der

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