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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Störungen entschuldigt und etwas zu trinken geholt. Wir haben bis zum frühen Morgen getrunken und sind beide auf demselben Sofa eingenickt …
    Auf einem Monitor ist die Flugbahn zu sehen: Den Sudan und Nordägypten haben wir hinter uns gelassen und fliegen jetzt parallel zur Mittelmeerküste. Eine Stewardess bietet mir etwas zu essen an; ich lehne ab und vergrabe mich in meinem Sitz. Hinter mir dösen zwei Journalisten. Eine junge Frau, die man mir vorgestellt hat und deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, drückt sich die Nase am Bullauge platt und betrachtet das Meer. Neben ihr schläft ein Kameramann den Schlaf des Gerechten. Wir sind acht Passagiere in dem kleinen Spezialflugzeug, das eigens aus Berlin gekommen ist, um uns in die Heimat zu bringen – ein Archipel aus acht Inseln, eingebettet in einen Ozean der Stille.
    Ich stelle mir die Leute vor, die uns in Frankfurt erwarten. Familie Mackenroth, gramgebeugt. Die Freunde des Verstorbenen. Die Nachbarn. Das Personal. Der Stab der Offiziellen, stocksteif und würdevoll. Die Fernsehsender. Der ganze triste Zirkus der Rituale. Die verschlossenen Gesichter. Die leeren Blicke … Und nirgends ein Platz, an dem ich mich verstecken könnte. Ich habe keine Rede vorbereitet. Ich werde nichts sagen. Ich werde im Schatten des Verstorbenen gehen und dem Trauerzug folgen, ohne mir Fragen zu stellen. Ich stehe unter Schock. Was ich empfinde, ist nicht aussagekräftig. Ich werde brav abwarten, bis sich alles gesetzt hat. Dann werde ich den Schritt über die Schwelle wagen. Hans würde es mir verübeln, wenn ich ihn nicht überlebte. Das Leben ist eine lange Kette von Widersprüchen und Herausforderungen. Man lernt täglich dazu, und täglich macht man Tabula rasa für die nächste Lektion. Es gibt ja keine unwiderlegbare Wahrheit, höchstens Gewissheiten. Wenn die eine sich als unbegründet erweist, schmiedet man sich die nächste zurecht und vergräbt sich dahinter vor Wetter und Wind. Das Weiterleben ist einem Schiffbruch vergleichbar, nur dass die Rettung keine Frage der Vorsehung, sondern des eigenen Durchhaltevermögens ist. Die einen geben auf, und die sind bereits tot, und die anderen lernen etwas dazu … Der alte Marabut-Krieger kommt mir in den Sinn, wie er da auf seiner Pritsche lag, gebrechlich, altersschwach, ein Gesicht wie aus Pergament. Seine meckernde Greisenstimme dringt in einem Seufzer von jenseits des Grabes zu mir. Wie hatte er doch gleich gesagt? Ja, ich hab’s, er sagte: »Damit ein Herz weiter im Rhythmus seiner Herausforderungen schlägt, muss es Saft und Kraft zum Weiterleben aus dem eigenen Scheitern pumpen.« Warum war ich diesem Alten aus dem Weg gegangen? Vielleicht, weil er in mir las wie in einem offenen Buch. Vielleicht, weil er mich allein mit seinem Blick umblätterte, Seite für Seite. Ich habe es schon immer gehasst, mir vor Fremden die Blöße zu geben. In Maspalomas gab es am Ende des Strandes einen Nacktbadebereich. Ich habe mich nie bis dorthin vorgewagt. In ein paar Stunden, wenn das Flugzeug mich auf dem Rollfeld ausspuckt, das vor Politikern und Journalisten nur so wimmelt, werde ich mich nackt und elend fühlen wie ein Wurm, und ich werde der ganzen Welt grollen … Dann wird das allgemeine Interesse sich dem Sarg und der Familie Mackenroth zuwenden, und wieder werde ich grollen, diesmal den versammelten Rücken, die mich schon nicht mehr beachten und wehrlos in den Rachen der schlimmsten aller Einsamkeiten werfen … Ich will das alles, so schnell es geht, hinter mich bringen, will meine Zukunft in Angriff nehmen, die das Gegenteil meines früheren Alltags sein dürfte, ganz anders, als ich sie mir heute vorstelle, denn ein ganz neues Kapitel, eine neue Folge, eine neue Geschichte werden den Mann, der ich bin, in eine völlig andere Person verwandeln, die ich nur schwer werde begreifen, geschweige denn beherrschen können. Hans hat einmal folgende Überlegung angestellt: »Was von dem, was man zu wissen glaubt, hat man wirklich verinnerlicht? Was bleibt hängen? Gewohnheiten? Automatismen? Arbeiten an Werktagen, Ausruhen an Ruhetagen? Was weiß man über die, die man allmorgendlich grüßt und die aus unserer Welt verschwinden, sobald sie um die nächste Ecke sind? Wenn Leben nur darin bestünde, für sich allein zu existieren, was unterschiede mich dann von den Bäumen, die sich im Winter entblättern und

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