Die Landkarte der Finsternis
illustrieren, zeigt er mir Fotos, die er an den »Schauplätzen des Verbrechens« aufgenommen hat. Da sieht man ihn, wie er in Hemd und Shorts mit nackten Kindern und Frauen inmitten von Strohhütten posiert; einen alten Schamanen in seinen Armen hält; mit dem Finger auf eine gigantische Anakonda zeigt, die gestorben ist, weil sie ein unverdauliches Krokodil verschlungen hat; wie er mit einem Stammesältesten, der einem Totem ähnelt, eine steinalte Friedenspfeife raucht; sich gegen monströse Maschinen wirft, die im Begriff sind, eine Lichtung zu verwüsten, oder gegen die lokalen Behörden demonstriert. Hans reist ohne Unterlass. Seit Paulas Tod hat er seine beiden Söhne mit der Leitung seiner Unternehmen betraut und setzt dem menschlichen Elend von einem zum anderen Ende des Planeten nach. Ihm zufolge besteht echte Reife im Teilen, denn des Menschen wahre Berufung sei es, zu etwas nütze zu sein.
Tao, der Koch, hat uns ein asiatisches Gericht zubereitet, das ganz köstlich schmeckt. Er hat uns das Essen um Punkt acht auf den Tisch gestellt und sich danach unsichtbar gemacht. Er ist um die fünfzig, hat einen teigigen, quittenfarbenen Teint, ist eher klein von Wuchs, effizient und diskret. Kurzgeschnittenes pechschwarzes Haar umrahmt sein asketisches Gesicht mit den hohen, hervorstehenden Wangenknochen. Er taucht so lautlos auf, wie er wieder verschwindet, auf das geringste Zeichen seines Arbeitgebers achtend. Hans ist ihm sehr zugetan. Er hat ihn vor fünf Jahren in einem Hotel in Manila kennengelernt und vom Fleck weg engagiert. Tao ist das Oberhaupt einer kinderreichen Familie, der er seinen gesamten Lohn zukommen lässt. Er spricht nie von den Seinen, beklagt sich niemals und hält sich stets hinter einem vagen Lächeln verschanzt, das seinen Seelenfrieden widerspiegelt. Ich habe ihn kaum jemals etwas sagen hören, seit wir auf der Yacht sind.
Nach dem Abendessen begeben wir uns wieder auf die Brücke. Der Nebel versucht, unseren Segler in seine Schwaden zu wickeln, aber seine fleddrigen Umarmungen zerfasern im Fahrtwind und formen eine gespenstische, instabile Kuppel über unseren Köpfen. Am nachtblauen Himmel sind vereinzelt sanft funkelnde Sterne zu erkennen, beinahe wie Glühwürmchen kurz vor dem Verglühen. AuÃer dem Plätschern der Wellen ist nichts zu hören. Die Stille scheint eins zu sein mit der Finsternis.
Hans lehnt sich an die Seilwinde und zündet mit einem ÂFeuerzeug seine Pfeife an. Er beobachtet die rötliche Glut, die sich im Pfeifenkopf bildet, aus dem winzige Flammen entwischen, und fragt mich, ob ich schon einmal in internationalen Gewässern gebadet habe.
»Nie weiter als hundert Schwimmzüge vom Strand entfernt«, erwidere ich.
»Immer noch diese Panik vor einem plötzlichen Krampf?«
»Genau. Sie überfällt mich, sobald ich keinen festen Boden mehr unter den FüÃen habe.«
»Ein Kindheitstrauma, nehme ich an.«
»Nicht unbedingt.«
»Was dann?«
»Ich mag keine unnötigen Risiken eingehen.«
Er nickt, zieht an seiner Pfeife und lächelt versonnen.
»Leben ist immer gefährlich, Kurt.«
»Das kommt darauf an.«
Die Wendung, die unser Gespräch nimmt, gefällt mir nicht. Meine Lage eignet sich kaum zur Erörterung existentieller Fragen. Hans merkt das auch. Er tut, als überprüfte er die Spannung eines Segeltaus, dann, nach einem kräftigen Zug an der Pfeife, bekennt er:
»Als ich jung war, bin ich oft zum Tauchen hierhergekommen. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Taucher. Er streifte sich den Taucheranzug schneller über als eine Socke und sprang mit dem Lehrer ins Wasser. Eigentlich war er ein phlegmatischer Typ, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lieÃ. Doch sobald er Meeresluft roch, wurde er so hibbelig wie ein kleiner Junge angesichts einer Schokowaffel.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Er war so ungeduldig, dass ich mich für ihn schämte. Und wenn er tauchte, musste der Tauchlehrer ihn oft regelrecht anflehen, wieder nach oben zu kommen. Mein Vater brachte es fertig, bis zur Bewusstlosigkeit einem Rochen nachzusetzen oder einer Muräne in ihrem Loch aufzulauern. Meine Mutter stand tausend Ãngste um ihn aus. Sie verbot ihm, mich mitzunehmen, um mir die Korallen zu zeigen ⦠Heute noch überläuft mich eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Es war eine sagenhafte Zeit â¦
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