Die Landkarte der Finsternis
Ãngsten zu lösen. Ich fühle mich dem Leben wiedergeschenkt. Eine schwere Geburt, gewiss, doch es fehlt mir nicht an Entschlossenheit. Das Meer zermürbt meinen Schmerz wie die Wellen das Riff. Zwar tauchen, wenn sich das Wasser zurückzieht, zwischen den Schaumkronen wieder Felsen auf, aber damit komme ich zurecht. Ich klammere mich ans Fockseil und biete dem Wind die Brust. So kann ich endlose Stunden zubringen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Das Plätschern der Wellen gegen den Rumpf schaukelt sachte meine Seele. Manchmal zieht in der Ferne ein Frachter vorüber, und ich verfolge ihn mit dem Blick, bis er hinter einem Schleier aus Gischt verschwindet; manchmal auch sehe ich hinten im Dunst verstohlene Gestade aufblinken â sindâs die Farasan-Inseln, istâs der Dahl-Archipel oder eine Luftspiegelung? Welche Bedeutung hat das schon? Was zählt, ist die Emotion, die dieser Anblick auslöst.
Hans lässt mich mittlerweile in Ruhe. Wenn er zu mir auf die Brücke kommt und mich in verzückter Andacht angesichts der endlosen Weite von Himmel und Meer vorfindet, zieht er sich leise zurück.
Vierzehn Tage also gleiten wir schon so durch besänftigte Fluten dahin. Nur einmal hat die mittägliche Brise einen Sturm entfacht, der in zuckende Trance verfiel, und gleich darauf zwanÂgen uns hohe Brecher, das Tempo zu drosseln. Doch am nächsten Morgen schon entrollte das Mittelmeer einen perlmuttfarbenen Teppich vor uns, auf dem die ersten Lichtreflexe des Tages aufblitzten. Gegen Abend zeigten sich vibrierende Rillen auf der Wasseroberfläche, und die flammenden Farben des Sonnenuntergangs bescherten uns ein atemberaubendes Schauspiel, in dem Rot und Schwarz zu einem gewaltigen Nordlichtfresko verschmolzen. Als wäre dieser märchenhafte Anblick allein noch nicht genug, sprangen Delfine zwischen den Gischtspritzern umher, rasant wie Torpedos, stolz auf ihren spindelförmigen, perfekten Rumpf, der sie Kristallblitzen gleich durch die Luft schieÃen lieÃ. Zeitweise geriet ich derart in den Bann der magischen Synchronizität dieser prachtvollen Choreographie, dass mein Puls im Takt der Wellen, die von ihnen ausgingen, zu schlagen schien.
Wie berauscht von der verschwenderischen Fülle der Natur, gehe ich zu Hans in die Kajüte hinunter, wo wir unsere Mahlzeiten einnehmen. Ãber dem Ledersofa hängt im glänzenden Holzrahmen ein Porträt von Paula. Ich glaube, er hat überall auf der Yacht Bilder von ihr. Wie schafft er es, mit einem Phantom zu leben, ohne den Verstand zu verlieren? Hans lächelt mir zu, als könnte er Gedanken lesen. Er schiebt seine Brille nach oben und rutscht auf seinem Sitz hin und her, froh, endlich Gesellschaft zu haben. Es ist mir peinlich, dass er sich meinetwegen eine exzessive Vorsicht bei der Wahl seiner Worte auferlegt. Er scheint jedes Wort zigmal hin und her zu wenden, bevor er es ausspricht, aus Angst, mich an einer empfindlichen Stelle zu treffen, weil er wohl meint, schon die Erwähnung von Jessicas Namen stürze mich wieder ins Unglück, was so nicht unbedingt richtig ist.
»Land in Sicht?«, fragt er mich.
»Ich habâs nicht überprüft«, entgegne ich.
»Komm, setz dich ⦠Ein Gläschen vor dem Abendessen?«
»Ich bin ja schon trunken vom Wind und der Weite.«
»Du solltest besser einen Hut aufsetzen. Es ist unvernünftig, so lange mit bloÃem Kopf in der Sonne zu bleiben.«
»Eine Windbö hat mir heute früh meinen Hut stibitzt.«
»Ich habe noch andere Hüte, wenn du willst.«
»Nein, danke, mach dir um mich keine Sorgen. Ich versichere dir, es geht mir gut.«
»Freut mich, das zu hören.«
Er trommelt auf den Tisch, weià nicht, was er noch sagen soll. Seine Lieblingsthemen hat er mittlerweile aufgebraucht. Seit unserer Abreise von Zypern erzählt er mir allabendlich nach dem Essen von seinen humanitären Expeditionen. Er kennt die primitiven Stämme Amazoniens in- und auswendig. Diese Ãrmsten der Armen haben es ihm angetan, die wehrlosen, ausgeÂplünderten Menschen, die infolge der extremen Abholzung der ReÂgenwälder und der unkontrollierten Wilderei aus ihren anÂgestammÂten Gebieten vertrieben werden und durch den Dschungel ziehen, bis sie eine neue Bleibe finden, von der sie dann wieder vertrieben werden, und so fort, bis sie völlig verelendet in der Fremde sterben. Um seine Geschichten zu
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