Die Landkarte der Finsternis
Betrachtung meiner Schuhspitzen, mit einer ganzen Tonne Blei im Genick. Ich wende den Dingen, die mir einmal gehörten und die heute so unnahbar sind, als hätte sie mir jemand streitig gemacht, bewusst den Rücken zu.
Als Claudia zurückkommt, findet sie mich auf dem Sofa eingenickt, in einem stockdusteren Wohnzimmer. Es ist Abend geworden, und ich habe es nicht einmal gemerkt.
Ich habe eine turbulente Nacht verbracht. Habe mein ganzes Bett zerwühlt. Furchtbar geschwitzt. Erstickungsanfälle gehabt. Jeden Gedanken musste ich mit Gewalt auf Abstand halten. Der Morgen traut sich kaum an mich heran, fasst mich mit Glacéhandschuhen an. Weil ich fürchte, im Bad am Ende noch Jessicas Leiche zu entdecken, dusche ich erst gar nicht, sondern halte nur kurz in der Küche mein Gesicht unter den Wasserhahn.
Wieder und wieder hat das Telefon geklingelt, doch ich bin nicht drangegangen.
Ich rufe Emma an und bitte sie, nach Feierabend auf mich zu warten, wenn der letzte Patient fort ist und auch Regina Hölm, die mich vertretende Ãrztin. Um 19 Uhr 15 begrüÃt mich Emma auf dem Treppenabsatz vor der Praxistür, frisch geschminkt und in einem schönen, zartblauen Kostüm. Ein vages Unbehagen durchzuckt mich, als sie mich hereinbittet. Mein Sprechzimmer bereitet mir einen kühlen Empfang. Die Wände sind immer noch cremefarben lackiert, mitten im Wartezimmer steht der niedrige Tisch mit den üblichen Illustriertenstapeln darauf, denselben Polsterstühlen ringsum, aber es fühlt sich nicht an, als kehrte ich in eine vertraute Umgebung zurück. Ein merkwürdiges Gefühl rumort in meiner Magengegend. Mein Sprechzimmer verströmt eine solche Tristesse! Jessica, die auf dem gischtumschäumten Felsen posiert, erscheint zwar im selben Rahmen, aber nicht im Licht derselben Erinnerung. Ich öffne den Blechschrank, in dem sich die Patientenakten stapeln, ziehe auf gut Glück ein Dossier heraus, überfliege es in dem Gefühl, verborgenen Schmerz ans Tageslicht zu zerren. Emma berichtet mir, Frau Biribauer habe endgültig die Waffen vor ihrer emotionalen Misere gestreckt und sei vor einem Monat aus dem Leben geschieden. Zufälligerweise halte ich ausgerechnet ihre Krankenakte in der Hand; ich räume sie sofort wieder weg, mit einer Bewegung, der etwas Fahnenflüchtiges anhaftet.
Ich habe Schlaftabletten genommen, und dennoch. Bin ich um vier Uhr morgens aus dem Bett gefallen und durch die Finsternis getappt. Habe den Fernseher erst ein-, dann wieder ausgeschaltet und mich ans Fenster gestellt. DrauÃen peitscht der Wind die Bäume auf. Ein Auto fährt vorbei, dann tritt eine schwebende Stille ein, so fragwürdig wie ein Waffenstillstand. Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich vor den PC. Meine Mailbox quillt über vor Spams und Kondolenzschreiben zu Jessicas Tod, auf die ich noch nicht reagiert habe; an die hundert noch zu beantwortende Nachrichten. Eine Mail von Elena mit angehängter Datei springt mir ins Auge. Ich gehe mit dem Cursor drauf, klicke sie aber nicht an â ich habe Angst, die Büchse der Pandora zu öffnen; ich bin noch nicht so weit. Ich kehre ins Schlafzimmer zurück und warte darauf, dass der Tag anbricht. Nach einem improvisierten Frühstück wird mir klar, dass ich hier rausmuss. Ich kann mich nicht in meinen vier Wänden verkriechen und die Zeit damit zubringen, mir Geheimtüren auszudenken, die ins Leere führen. Meine Lungen brauchen frische Luft, mein Kopf neue Ideen. Ideen habe ich überhaupt keine mehr. Meine Gedanken ruhen am Boden meines Geistes wie Kieselsteine im Flussbett ⦠Oder wie Spione, Schläfer, je nachdem, wie man das sieht. Ich bin in einer Art diffuser Erwartungshaltung. Habe Angst vor dem, was ich am Ende alles noch verdränge und verschweige ⦠Ich beschlieÃe, eine Ablenkung zu wagen, ins Zentrum zu fahren und mich in der Menge zu verlieren. Um meine vertraute Stadt wiederzufinden, meine Mark- und Meilensteine, die Winkel und Ecken, die mir früher viel bedeutet haben. Höchste Zeit, mir zurückzuholen, was das afrikanische Abenteuer mir genommen hat, und die Risse zu kitten, die durch so viele Abwesenheiten rings um mich entstanden sind â¦
Ich bin schnell desillusioniert.
Frankfurt ist zum Bersten voll â von Jessica. Das allgegenwärtige Phantom meiner Frau bevölkert die Stadt. Es läuft neben mir her vor der Hauptwache, spiegelt
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