Die Landkarte der Finsternis

drei Meter lang, dick und hässlich, kommt aus einer Ritze gekrochen, im Halbdunkel leuchten ihre Pupillen. Hans beginnt zu brüllen, damit uns jemand zu Hilfe eilt.
    Â»Rührt euch bloß nicht!«, herrscht uns ein Aufseher an, den die Hilferufe von Hans herbeigelockt haben.
    Die Schlange gleitet über einen Erdbuckel und wendet sich dann, vom Geschrei angelockt, mit züngelnder Zunge uns zu. Ich bin wie versteinert vor Schreck. Das Reptil reißt sein Maul auf, richtet sich auf bis zur Höhe von Hans’ Gürtel und weicht dann zurück; ich schließe die Augen, gleich wird mein Herzschlag aussetzen … Nichts passiert. Ich öffne die Augen; die Schlange kriecht auf eine enge Spalte zu, schlüpft hinein und ist verschwunden.
    Â»Bringt uns weg von hier, ganz weit weg!«, brüllt Hans, er ist mit den Nerven am Ende. »Holt uns hier raus …«
    Zwei unserer Entführer nähern sich mit äußerster Wachsamkeit der Felsspalte. Joma kommt hinterher. Zu dritt beobachten sie das Loch, in dem die Schlange verschwunden ist.
    Â»Wir bleiben keine Minute länger in diesem Abgrund des Irrsinns«, lehnt sich Hans in Panik auf.
    Â»Ich habe keinen anderen Ort, um euch unterzubringen«, beendet Joma den Aufstand.
    Â»Aber da ist eine Schlange«, erinnere ich ihn, außer mir.
    Â»Das war keine Schlange, das war der Höhlengeist«, beruhigt er uns mit einer Ernsthaftigkeit, die uns die Sprache verschlägt. »Er ist der Hüter dieses Ortes. Wenn er euch böse gesonnen wäre, hätte er euch wie zwei frische Eier geschlürft.«
    Daraufhin befiehlt er seinen Männern, das fragliche Loch zu stopfen, und überlässt uns ohne ein weiteres Wort unserem Schicksal.
    2.
    Geschlagene vier Tage haben wir auf die Rückkehr von Moussa warten müssen!
    In der ersten Nacht hatte ich einen seltsamen Traum: Ich saß auf einem Baum und sägte an einem Ast. Darunter spielte meine Mutter mit einem orangefarbenen Medizinball. Eigentlich war da nur ein Mädchen mit goldenem Haarschopf zu sehen, aber im Traum war sie meine Mutter. Fröhlich trällernd lief sie hinter ihrem Ball her. Auf einmal blieb sie stehen. Eine merkwürdige Stille trat ein. Blut tropfte auf den Kopf meiner Mutter, auf ihre nackten Schultern, vor ihre Füße. Sie hob die Augen zum Baum und wurde ganz bleich: Kurt, schrie sie auf, was tust du? Ich lenkte meinen Blick auf das, was ich da tat, und merkte, dass ich gar nicht am Ast sägte, sondern an meinem Arm … Ein stechender Schmerz ließ mich auffahren: Die Eisenketten hatten sich tief in mein Fleisch eingeschnitten und mir die Handgelenke wundgescheuert.
    In der zweiten Nacht träumte ich von Paula. Wir saßen auf der Veranda unseres Bungalows in Maspalomas. Hans bog sich vor Lachen. Ich verstand nicht, warum er lachte. Paula vollführte luftige Tanzschritte. Ihr rotes Kleid wirbelte wie Klatschmohn um sie herum. Irgendwo war eine Tür, die ins Nichts führte. Paula öffnete sie. Eine blendende Lichtflut ergoss sich über die Veranda. Hans eilte zur Tür und schrie seine Frau an, sie solle zurückkommen. Paula aber lief immer weiter ins Licht und löste sich Stück für Stück auf. Hans schrie und schrie; dann knallte ein Windstoß die Tür so stark zu, dass ich mit dem Kopf auf den Felsen aufschlug …
    In der dritten Nacht träumte ich von Jessica, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern.
    Volle vier Tage lang …
    Vier Tage und Nächte voll bleierner Ungewissheit und Angst, abends schlotternd in der Kälte, die vom Meer herüberzog, ­tags­über halb erstickt in der zermürbenden Feuchtigkeit der Höhle … Vier endlose Tage und Nächte, in denen ich mir auf dem harten, unebenen Boden die Knochen aufrieb und zu den unmöglichsten Verrenkungen gezwungen war, wenn ich mich kratzen oder erleichtern wollte; vier Tage und Nächte, an denen ich den Becher bitteren Grolls bis zur Neige leerte und am giftigen Kraut meiner Ohnmacht kaute … Vier Tage, so düster wie die Nacht, vier Nächte, so finster wie die Absichten unserer Entführer, während derer ich mich fortwährend fragte, wann ich wohl endlich aus diesem widerwärtigen Traum erwachen würde, der meinen Schmerz um Jessica ganz in den Hintergrund drängte … Ich war wütend auf diese wilden Gestalten, die aus dem Nichts aufgetaucht waren wie ein böser Fluch, um in mein