Die Landkarte der Finsternis
und tiefer in den Realitätsverlust hinein.
Am nächsten Morgen sehe ich durch die Gittertür hindurch eine Staubfahne über einem Geröllhaufen wirbeln, der einst der Schutzwall des Militärstützpunkts war. Es ist das MotorradÂgespann, das von wer weià woher zurückkommt. Es hält direkt vor dem Kommandoposten. Der Fahrer steigt ab und hilft einem Mann, sich aus dem Beiwagen zu schälen. Der Beifahrer ist ein Mischling mit sehr hellem Teint, ein schmächtiger älterer Mann mit leicht gebeugtem Gang, eiförmigem Schädel und hoher Stirn; er trägt einen zerknitterten Anzug, eine Brille und eine abgewetzte Tasche, die er an die Brust gedrückt hat. Hauptmann Gerima schüttelt ihm kräftig die Hand und bittet ihn in sein Büro. Einige Minuten später kommt Joma, um Hans zu holen. Ich will wissen, wohin er meinen Freund bringt, und er antwortet knapp: »Auf die Sanitätsstation.« Ich erinnere ihn daran, dass ich Arzt bin; der Koloss grinst und bemerkt hintergründig, dass in Afrika ein einfacher Schamane genügt. Zwei Männer packen Hans unter den Armen und schleifen ihn zu einem Verschlag hinter dem Kommandoposten.
Ich warte den ganzen Vormittag und auch den Nachmittag über auf Hans, aber er kommt nicht zurück. Ich versuche, in Erfahrung zu bringen, wie es ihm geht, aber ich handele mir nichts als unflätige Drohungen ein.
»Er ist ein guter Arzt«, beruhigt mich Bruno. »Er hat meinen Durchfall geheilt. Und immerhin hat er richtige Medikamente.«
»Das ist ein richtiger Arzt?«
»Ich glaube schon. Ich weià nicht, wo er wohnt, aber der Hauptmann lässt ihn oft kommen, wenn jemand ernsthaft krank ist.«
Es wird Nacht, ohne dass ich Gelegenheit hätte, Hans wiederzusehen.
Am nächsten Morgen, wie auch an den folgenden Tagen, noch immer keine Spur von Hans. Ich gerate langsam in Panik und bitte um ein Gespräch mit dem Hauptmann. Statt mich zu empfangen, befiehlt der Offizier Joma, mir klarzumachen, dass eine Geisel besser daran tut, nicht aufzumucken, wenn sie unversehrt nach Hause zurückkehren will. Ich schiebe die Drohungen mit der Hand beiseite, bestehe auf einer Erklärung, verlange Auskunft über den Zustand meines Freundes. Und wieder ernte ich nichts als wüste Beschimpfungen und harsche Gesten.
Am vierten Tag verlässt das Motorradgespann den Stützpunkt, mit dem Doktor an Bord. Hans aber bleibt noch auf der »Sanitätsstation«. Erst nach einer Woche sehe ich ihn wieder, von weitem, wie er, mit einem Verband um die Brust, von Blackmoon zu einer Blechbude gebracht wird, die als Toilettenhäuschen dient.
»Warum wird er isoliert?«, frage ich Bruno, denn ich befürchte eine schwere Infektion, die mir die Piraten am Ende verheimlichen wollen.
»Wir beide sind es, die man isoliert, Kurt«, erwidert er. »Wenn man sich derart um deinen Freund bemüht, dann, weil unsere Entführer mit ihm etwas Besonderes vorhaben.«
Ich verstehe nicht. Er lässt sich neben mich fallen und erklärt es mir:
»Als ich zusammen mit dem italienischen Journalisten gekidnappt wurde, hat man uns wochenlang mit einer dritten Geisel in ein grausiges Kellerloch gesperrt. In völlige Dunkelheit. Und eingeschnürt wie die Würste. Dann wurde der Journalist in eine Einzelzelle gebracht, und man fing an, ihn besser zu behandeln, gab ihm anständig zu essen und erlaubte ihm, sich zu waschen und zu rasieren. Einige Zeit später lieà man ihn dann frei. Ich glaube, dein Freund wird relativ bald wieder auf freiem FuÃe sein. WeiÃt du, das läuft hier folgendermaÃen: Diese ganzen Kriminellen sind bestens organisiert, auch wenn man ihnen das kaum zutrauen würde. Sie haben überall ihre Spitzel sitzen, in der Stadt und unter den Beamten, die ihnen alles, was für sie interessant sein könnte, sofort übermitteln. Und dann gibt es ja auch noch das Internet. Sie tippen die Namen ihrer Geiseln ein, und in der nächsten Sekunde haben sie alle Informationen, die sie brauchen. So haben sie es auch bei dir und deinem Freund Âgemacht. Bei deinem Namen ist vermutlich nichts GroÃartiges für sie herausgekommen, während der Name deines Freundes Âihnen wohl eine Menge spannender Einzelheiten verraten hat ⦠Ich bin jetzt schon vier Monate in Gefangenschaft und spüre mittlerweile, in welchem Moment der Wind sich dreht. Der Hauptmann macht einen enthusiastischen
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