Die Landkarte der Finsternis
Mauerloch, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich will mir den Sonnenuntergang ansehen, mich wenigstens für einen Moment dem Mühlrad meiner Gedanken entziehen. Ich muss um jeden Preis durchhalten, sage ich mir. Kaum ist die Sonne verschwunden, wirft die Dunkelheit sich auf die Schatten wie ein Raubtier auf seine Beute, und eine alternde Nacht, vom Zahn der Zeit zerzaust, schickt sich an, bar jeder Romantik und ohne jeden Reiz ins Grab der Wüste zu steigen. Ich weià nicht viel über afrikanische Nächte, aber eines ist gewiss: Für mich wird die afrikanische Nacht immer so sinnlos bleiben wie der Zufall, der mich in dieses Loch verschlagen hat. Ich denke an die Nächte meines Lebens zurück, an Frankfurt, Sevilla, Las Palmas, die Riviera und die Côte dâAzur, Thessaloniki und Istanbul; sehe Terrassen mit weiÃen Balustraden vor mir, glitzernde Schaufenster und Theken in verspiegelten Bars, denen das Halbdunkel etwas Geheimnisvolles verleiht; sehe die Stätten vor mir, die mich begeistert haben, die StraÃen, die ich entlanggeschlendert bin und die mir tausend alltägliche Glücksmomente bescherten, sehe Plätze, auf denen ausgelassene Kinder toben, Bänke unter schattigen Birken, auf denen Alte und Liebespaare dem Herzschlag ihres Lebens lauschen, Touristen, die vor Denkmälern Erinnerungsfotos schieÃen; ich höre den Singsang ihrer Stimmen, die Musik, die sich schwallweise aus den Kneipen ergieÃt, die Reisebusse, die gen Süden starten, und diese Nächte erscheinen mir so sinnlich und verheiÃungsvoll wie der Julimond. Es ist schon verblüffend, mit welcher Klarheit ein Mann, dem man die Freiheit nimmt und eine ungewisse Zukunft in Aussicht stellt, in der Rückschau sein beschlagnahmtes Leben sieht; all die kleinen Dinge, denen er nie irgendeine Beachtung geschenkt hat, treten mit ungeahnter Deutlichkeit hervor und erfüllen sein Herz mit einer Nostalgie, die umso prächtiger glänzt, je gröÃer sein Kummer ist. Und so schlieÃe ich die Augen und fahnde nach dem kleinsten Funken Licht, der mein Unglück ein wenig aufhellen könnte: ein sprühendes Lachen, ein beschwingter Schritt, ein flüchtig aufscheinendes Gesicht, ein Lächeln, ein Händedruck, einfach alles, was mein einsames Kerkerdasein mit namenloser Präsenz ausfüllen könnte. Und natürlich ist Jessica allgegenwärtig; ich rieche aus dem Gefängnismief die Duftnote ihres Parfüms heraus, vernehme das seidene Knistern ihres Kleides im Rascheln ringsum; ich sehne mich nach ihr im Herzen dieser Finsternis, die allmählich mein ganzes Denken dominiert. Nackt und bloà fühle ich mich ohne sie, wie amputiert. Und da schwöre ich mir, bei den Gitterstäben dieses verfluchten Fensterlochs, die wie Feuer in meinen Fingern brennen, bei dieser Nacht, die nichts und niemanden zum Erzählen inspiriert, von der sich Fels und Mensch abwenden, schwöre mir hoch und heilig, nicht schwach zu werden und, ganz gleich, was noch passiert, von hier wegzukommen und nach und nach zu allem zurückzufinden, was mein Leben einmal war: zu den Städten und StraÃen, den Menschen und Liedern, die mir wichtig sind, zu den Orten, an denen mein Herz hängt, den Stränden, deren Sand die Erinnerung an den ersten Ãberschwang meiner Gefühle bewahrt, ja, zu all meinen kleinen Schwächen, Angewohnheiten und Illusionen ⦠so lange, bis ich nicht mehr weiÃ, wohin damit!
4.
Meine dritte Woche in Gefangenschaft ist mit einem Sandsturm zu Ende gegangen, der volle drei Tage und Nächte anÂgedauert hat. Am Anfang dachte ich, ich würde das nicht überstehen, sondern einen jämmerlichen Tod durch Ersticken sterben. Zwar hatte ich einen Tuaregschal um den Kopf geschlungen, aber meine Augen brannten, waren gereizt und geschwollen, und es fühlte sich an, als ob mir der Staub durch sämtliche Poren dränge. Ich hatte bisher noch nie einen Sandsturm erlebt und entdeckte dieses auÃergewöhnliche Naturphänomen wie im Wahn. Es war, als hätte Pandora einmal mehr ihre Büchse geöffnet, um einen rasenden Orkan des Unheils zu entfesseln: Sturmböen ohne Ende, die die Welt mit ihrem wütenden Toben verhexten. Himmel und Erde wurden von einem tosenden Inferno verschluckt, und ich konnte den Tag nicht mehr von der Nacht unterscheiden. Man hörte nur noch das Grollen der Sandmassen, die über die Wüste brandeten, und ihr
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