Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
Eindruck, das ist ein untrügliches Zeichen. Normalerweise hat er eine Laune wie ein Pitbull … Was macht Hans denn so im Leben?«
    Â»Er ist im humanitären Sektor tätig.«
    Â»Das ist mit Sicherheit nicht alles.«
    Ich zögere, vergewissere mich zunächst, dass kein indiskretes Ohr in der Nähe ist, bevor ich es ihm sage:
    Â»Hans Mackenroth ist in der Tat ein deutscher Großindustrieller, ein gewaltiges Vermögen …«
    Â»Na bitte, das erklärt doch alles. Gut möglich, dass Hauptmann Gerima bereits in Verhandlungen mit mehreren Gruppen steht, die sich für deinen Freund interessieren. Je nachdem, wie rentabel das ›Produkt‹ zu sein verspricht, können die Gebote manchmal astronomische Höhen erreichen.«
    Tausend Fragen überstürzen sich in meinem Kopf, aber ich bin zu erschöpft, um sie zu sortieren. Ich weiß weder, wie solche Unterhandlungen vor sich gehen, noch, wie lange sie dauern, und ehrlich gesagt sehe ich immer weniger das Ende des Tunnels vor mir. In zwei Wochen Gefangenschaft hat sich mein klares Denkvermögen völlig aufgelöst. Meine Angstzustände haben sich im Lauf schlafloser Nächte dramatisch verschlimmert, und mit ­jeder Minute, die vergeht, schwindet meine Geistesgegenwart mehr dahin. Ich bin nicht mehr ich selbst. Meine Stimme hat sich verändert, meine Reflexe sind erlahmt. Ich bin dünner geworden, ein hässlicher Bart überwuchert mein Gesicht, und das unsägliche Essen, das man uns vorsetzt, hat mich krank gemacht. Wenn das so weitergeht, drehe ich mit Sicherheit früher oder später durch oder lasse mich am Ende noch totschlagen wie ein räudiger Hund.
    Die Welt um mich herum schnürt mich ein wie eine Zwangsjacke. Es ist eine Welt, die nur aus quälendem Durst und stechen­der Sonne besteht und in der außerhalb des Stützpunkts nicht das Geringste passiert. Bis auf die Staubwirbel, die der Wind hochpeitscht und alsbald wieder fallen lässt, und die Raubvögel, die am öden Himmel krächzen, herrscht das gnadenlose Reich der Stille und der Reglosigkeit. Selbst die Zeit scheint auf den düsteren Felsen gekreuzigt zu sein, die wie böse Vorzeichen am Horizont aufragen.
    Ich setze mich auf die Türschwelle, um so etwas wie frische Luft zu schnappen. Tagsüber lassen die Wachen die Tür offen, und Bruno und ich dürfen uns im kleinen, von Stacheldraht umzäunten Hof die Beine vertreten; das ist sozusagen unser »Solarium«, ein Gelände von weniger als hundert Quadratmetern, das ein abgestorbener Baum ziert, an dessen Fuß ich oft Stunde um Stunde verrinnen lasse und dabei unseren Entführern zusehe, wie sie ihren Beschäftigungen nachgehen oder sich mit fragwürdigem Elan unter der bleiernen Sonne im Gleichschritt üben. Es ist nach dreizehn Uhr; die meisten Piraten haben sich in ihre Unterkünfte zurückgezogen, während hier und da ein paar dienstbare Geister zugange sind. Der Posten oben auf dem Wachturm hält mit dem Finger am Abzug Ausschau nach verdächtigen Bewegungen. Ein wenig im Abseits, wie ein Pestkranker in Quarantäne, wetzt Blackmoon im Schatten eines Blechdachs mit einem Bimsstein seinen Säbel, dabei klebt ihm noch immer die groteske gläserlose Brille auf der Nase. Hinter einem schiefen Turm leerer Kisten kommt unter zwei Baseballmützen, eine mit Schirm im Nacken, die andere mit Schirm in der Stirn, Ewana zum Vorschein, der Malariakranke, wie er an einem Joint zieht; seit der kritische Punkt seiner Krankheit vorüber ist, lässt er sich immer zur Stunde der Siesta kurz blicken, verkriecht sich dann in einen Winkel und gönnt sich einen kleinen Ausflug ins Reich der Virtualität. Auf der Außentreppe des Kommandopostens ist ein Bursche dabei, die Wäsche des Hauptmanns zu waschen; die sogenannte »Ordonnanz« verbringt ganze Tage damit, die Unterhosen des Offiziers auszuwringen, seine Stiefel zu wichsen, seine Waffen zu wienern und seine falschen Tressen zu polieren … Wenn ich diese Gestalten betrachte, die sich, nur weil sie mit verstiegener Wortklauberei Terror betreiben, schon für Warlords halten, wenn ich höre, wie sie einander in ihrem unver­ständ­lichen Kauderwelsch anherrschen und ohne erkennbaren Grund schallend lachen, kann ich nicht umhin, mich zu kneifen. Auf welchen Planeten hat die Ironie des Schicksals mich eigentlich verschlagen? Welche Lehre soll ich, der

Weitere Kostenlose Bücher