Die Landkarte der Finsternis
elegisches Heulen in den Senken und Mulden. Dann legte sich der Sturm mit einem Schlag, und wie durch ein Wunder normalisierte sich alles. Die Gluthitze begann wieder ihr nervtötendes Sirren, und der Horizont zeigte sich erneut in seiner frustrierenden Leere.
Hans habe ich, seit man uns getrennt hat, nur zweimal zu Gesicht bekommen. Er hält sich schon ein wenig besser auf den Beinen. Blackmoon hat durchblicken lassen, dass mein Freund eine Sonderverpflegung erhält und man ihm abends gestattet, sich hinter dem Hügel die FüÃe zu vertreten, damit er eine frischere Gesichtsfarbe bekommt. Die Stimmung im Lager ist derzeit fast schon entspannt; der Hauptmann ist guter Dinge und Moussa, der Boss, gerade mit seinen Schergen und zwei bis obenhin mit Lebensmitteln beladenen Pick-ups von Beutezügen durch abgelegene Weiler zurückgekehrt.
Bruno und ich kauern auf der Türschwelle vor unserem Kerker. Da kommt Blackmoon angestiefelt und schwingt sich über die niedrige Einzäunung, um sich am Fuà des abgestorbenen Baums ein Plätzchen zu suchen. Mit einem Buch in der Hand und ohne seinen Säbel. Es ist selten, dass der Pirat sich einmal ohne seinen Degen zeigt, fast könnte man meinen, ihm fehle ein Körperteil; er wirkt verändert, wie ein normaler, ruhiger Junge, ganz passabel anzusehen. Er lässt sich, ohne uns zu beachten, auf einem Erdhügel nieder und versenkt sich in sein Buch, das er beharrlich an derselben Stelle geöffnet hält.
»Was hast du denn mit deinem Säbel gemacht, Chaolo?«, fragt Bruno ihn.
Blackmoon tut, als hätte er nichts gehört. Als ihm Bruno die Frage noch einmal stellt, sieht der Pirat sich suchend um, als hätte der Franzose sich an jemand anderen gewandt, dann legt er einen Finger an die Brust und erkundigt sich:
»Redest du mit mir?«
»Na, logisch â¦Â«
»Ich heiÃe aber nicht Chaolo.«
»Seit wann denn das, wenn ich fragen darf?«
Achselzuckend vertieft sich Blackmoon wieder in sein Buch.
»Jedenfalls heiÃe ich jetzt nicht mehr so«, wendet er nach Âeiner Pause ein und sendet einen auffordernden Blick in meine Richtung, als wollte er, dass ich den Franzosen aufkläre.
»Er hat jetzt einen Kampfnamen«, vertraue ich Bruno an. »Blackmoon.«
»Beeindruckend«, bemerkt Bruno und verbirgt ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand. »Und deshalb hast du dich von deinem Säbel getrennt?«
»Das ist kein Säbel, sondern eine Machete«, berichtigt ihn Blackmoon leicht gereizt. »Ich habe sie dem Koch geliehen. Er braucht sie, um das Tier zu zerlegen.«
Bruno streicht sich mit seinen geschwollenen Fingern durch den Bart, dann kratzt er sich die Wange, wobei er geflissentlich die verstohlenen Winke übersieht, die ich ihm gebe, um zu verhindern, dass die Dinge eine üble Wendung nehmen, und erkühnt sich schlieÃlich: »Wenn du jetzt schon einen Kampfnamen hast, wird man dir bestimmt bald eine Maschinenpistole in die Hand drücken.«
Blackmoon seinerseits scheint nichts dagegen zu haben, auf das Spielchen des Franzosen einzugehen. Er schiebt seine Brille auf die Stirn und gesteht:
»Das einzige Mal, dass man mir eine Knarre in die Finger gegeben hat, ging der Schuss von selber los, und die Kugel hat versehentlich den Hund vom Boss Moussa erwischt. Hauptmann Gerima, der ja eine Art Hexer ist, meinte, das kommt daher, dass der Geist der Feuerwaffen sich nicht mit meinem verträgt. Deshalb bin ich auf die Machete umgestiegen.«
Er verstummt, als ein junger Pirat mit einer Schubkarre vorbeikommt.
Bruno wartet auf die Fortsetzung der Erzählung, die aber ausbleibt. Er versucht, das Gespräch wieder anzukurbeln:
»Was liest du denn da?«
»Ich kann doch gar nicht lesen.«
»Was soll das heiÃen, du kannst nicht lesen? Eine geschlagene Stunde hast du jetzt schon die Nase in deinem Buch!«
»Ich find das eben super, mir die Wörter anzugucken. Da steckt so viel mehr drin als nur Kringel und Linien. Es wirkt so geheimnisvoll. Also sehe ich sie mir an, die Wörter, und versuche, ihren Code zu knacken.«
»Und du kannst Stunden so zubringen, mit der Nase im Buch, einfach nur, um dir die Wörter anzusehen?«
»Warum denn nicht? Hast du damit ein Problem?«
»Nicht wirklich.«
»Mich stört es jedenfalls nicht. Ich hock mich unter irgendeinen Baum oder auf einen Stein, schlag mein Buch auf, schau hinein und
Weitere Kostenlose Bücher