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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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noch der Logik des Unrechts folgt. Würdest du den größten Draufgänger oder den reichsten Kriegsgewinnler fragen, was er sich wirklich wünscht, er würde dir wie aus der Pistole geschossen antworten: ›Einen Augenblick der Ruhe.‹ Kein Volk ist für den Krieg gemacht. Unseres nicht mehr als eures. Aber uns hat man keine Wahl gelassen. Der Haudegen, der ich bin, hätte auch gern einen ruhigen Job und eine niedliche kleine Frau, die ihn abends daheim erwartet, und warum nicht auch ein oder zwei Knirpse, die ihm, wenn er von der Arbeit kommt, um den Hals fallen. Aber ich hatte kein Glück, und statt eines Schulhefts hat man mir eine Knarre in die Hände gedrückt und gesagt: ›Rette deine Haut, so gut du kannst.‹ Also tue ich, was ich kann …«
    Ich begnüge mich damit, ihn unverwandt anzusehen, und hoffe nur, nichts von meinen Gedanken zu verraten. Mein Schweigen irritiert ihn, aber er nimmt es hin. Es dürfte ihm klar geworden sein, dass er mit Bruno zu weit gegangen ist, und in mir sieht er jetzt lediglich den Zeugen der Anklage, den es zu besänftigen gilt. Er blickt so ratlos drein, dass ich nicht den Eindruck habe, die Abneigung, die er in mir weckt, erfolgreich zu kaschieren. Seine Bestialität hat mich zutiefst erschüttert, und ich bezweifle, dass es mir jemals gelingen wird, in ihm noch ­einen Repräsentanten der Menschheit zu sehen, ganz gleich, welche Argumente er noch in der Hinterhand hat oder wie nachdrücklich er sich schuldig bekennen mag.
    Er wischt sich mit einem Taschentuch übers Gesicht, tupft sich ein milchiges Sekret aus den Mundwinkeln, dann stopft er das Tuch wieder in die Tasche zurück. Seine Augen blicken suchend an der Decke umher, legen sich prüfend auf mich. Er zieht eine Schachtel Zigaretten hervor, bietet mir eine an, ich lehne ab. Ich will, dass er endlich geht, endlich unsere Zelle verlässt, die von seinem Säuferatem schon ganz verpestet ist, dass er mich allein lässt mit dem Dämmerlicht und dem Schweigen … Aber er denkt gar nicht daran. Da steht er, mitten im Raum, ein Heuchler bis in die Fingerspitzen, und betrachtet ein Stück abblätterndes Mauerwerk.
    Er schiebt sich eine Camel zwischen die Lippen, Lippen, so hart und so dick, als wären sie aus Holz, zündet sie an und zieht mit gespielter Nervosität daran.
    Â»Meine Mutter ist an Altersschwäche gestorben, als sie gerade fünfunddreißig war. Unsere Leute hatten noch nicht mal genug, um sich ein Aspirin zu kaufen. Und wer wusste denn schon, was Aspirin überhaupt ist? Was die Seuchen betraf, da erging es uns keine Spur besser als unserem Vieh … Und da will man uns glauben machen, dass es auf Erden so etwas gibt wie eine Gerechtigkeit und im Himmel einen Gott?«
    Er nimmt einen langen Zug, den er durch die Nase entweichen lässt, betrachtet das glühende Ende der Camel, als ob ihn daran irgendetwas faszinierte, und verliert sich für eine Weile in seinen Erinnerungen, dann bedrängt mich sein Blick erneut:
    Â»Es gibt weder Gerechtigkeit noch Erbarmen auf Erden«, hält er mir vor. »Es gibt jene, die leben, und jene, die überleben, und in beiden Fällen auf Kosten derer, die nicht so viel Glück hatten.«
    Er tritt seine Zigarette mit der Stiefelspitze aus, als zermalmte er einen Schlangenkopf. Bevor er geht, verharrt er kurz auf der Türschwelle, blickt mir ins Gesicht und vertraut mir an:
    Â»Ich habe mir die Gewalt nicht ausgesucht, ich wurde von ihr rekrutiert. Ob mir das passte oder nicht, tut nichts zur Sache. Jeder muss sehen, wie er klarkommt mit dem, was er hat. Ich bin niemandem im Besonderen böse und sehe daher auch nicht ein, warum man nicht alle gleich behandeln sollte. Schwarz oder weiß, schuldig oder unschuldig, Opfer oder Henker, für mich ist das alles eins. Ich bin viel zu kurzsichtig, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Und was macht schon die Spreu zur Spreu, den Weizen zum Weizen? Was dem einen nützt, schadet dem anderen. Es kommt immer darauf an, auf welcher Seite man steht. Nicht nötig, da Bedauern oder Gewissensbisse zu verspüren. Was ändert das schon, wenn das Übel einmal geschehen ist? Als kleiner Junge hatte ich vielleicht mal ein Herz, heute ist es versteinert. Wenn ich die Hand auf meine Brust lege, fühle ich nur die kalte Wut, die in mir aufsteigt. Andere Gefühle kenne ich nicht, denn niemand hatte je Mitgefühl mit mir. Ich

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