Die Landkarte der Finsternis
gelähmt; der Koloss ist keine zwei Meter mehr von ihm entfernt, und noch immer ertönt kein Schuss. Und da geschieht es. Blitzartig schlägt Joma ihm das Gewehr aus der Hand und greift mit der anderen Hand nach der Kehle des Franzosen. Bruno zappelt am ausgestreckten Arm des Riesen, strampelt verzweifelt mit den Beinen in der Luft. Joma wirft ihn zu Boden und drückt mit aller Kraft zu, verlagert sein ganzes Gewicht auf den Hals des Franzosen. Der wehrt sich, schlägt um sich, verrenkt sich; seine Absätze zeichnen zahllose Schrammen in den Staub. Einen Augenblick lang trifft sein Blick den meinen, und ich lese dort das blanke Entsetzen. Nach kurzer Gegenwehr sinken seine Fäuste besiegt auf die Brust, und ein feuchter Fleck breitet sich auf seinem Hosenboden aus. Bruno ringt mit dem Tod. Joma weià es und wartet nur darauf, dass ihm seine Seele wie eine reife Frucht in den Schoà fällt ⦠Da geht der Schuss los! Ein gewaltiges Krachen, lauter als jeder Donnerschlag. Die Detonation erschüttert mich von Kopf bis FuÃ. Sekundenlang bin ich wie benommen. Joma bäumt sich unter dem Einschuss auf. Ungläubig lässt er Brunos Kehle los, fasst sich mit der Hand an den Hals. Als er das Blut sieht, das zwischen seinen Fingern durchspritzt, dreht er sich langsam zu mir um, bedenkt mich mit einem Blick, in dem ein merkwürdiger Ausdruck des Triumphes liegt, und murmelt, während sein Mund sich mit Blut füllt:
»Ich bin sehr stolz auf dich. Jetzt bist du ein richtiger Afrikaner.«
Dann sackt er mit glasigen Pupillen zur Seite, seine Gesichtszüge erstarren für alle Zeit.
Da erst entdecke ich die Pistole in meiner Hand.
Wie es weiterging, daran erinnere ich mich nicht mehr.
Ich weià nur noch, dass Bruno und ich in den Pick-up gesprungen und so lange gefahren, gefahren und immer weiter gefahren sind, bis die Nacht uns aufgesogen hat wie Löschpapier.
8.
Der Morgen zieht herauf, so sinnlos wie ein Gebet im Angesicht dieser öden, gehörlosen Wüste. Hier und da zerbröckelt ein Felsen zu Staub, gleichsam Strandgut, hinterlassen von einem vor Urzeiten verdunsteten Meer; markieren dürre GestrüppÂarme, von giftigen Flaschenkürbissen umrankt, den einstigen Uferverlauf, an dem einsame Schirmakazien in gequälter Pose gen Himmel ragen; sonst nichts â nichts von dem, was man zu sehen erhofft â, keine Karawane, die die Vorsehung schickt, keine Hütte, in der Hilfe harrt, und nirgends die Spur eines Biwaks. Die Wüste ist dermaÃen pervers â¦! Sie ist ein trügeÂrischer Code, die Wüste, ein übermächtiges, heimtückisches ÂLabyrinth, in dem der Tollkühne ins Verderben rennt, der Unachtsame, ehe er sichs versieht, in Luftspiegelungen untergeht, und der Schiffbrüchige vergebens an seine Schutzheiligen appelliert, welche die Blamage scheuen. Sie ist das Reich fortlaufenden Scheiterns und flehentlicher Bitten, diese Wüste, ein Leidensweg, der sich ins Unendliche verzweigt, ist die Kehrseite einer Medaille, auf der die Beharrlichkeit zur Besessenheit wird und aus dem Glauben schierer Wahnsinn. Die Eitelkeit der Welt, hier hat sie zur ewigen Ruhe gefunden, scheinen das karge Gestein, die kahlen Perspektiven zu verkünden. Alles kehrt hier zu Staub zurück, die schweigsamen Berge, die wuchernden Wälder, verlorene Paradiese, verschleuderte Imperien, bis hin zu der Menschen tosendem Reich ⦠Hier, in diesen unendlichen Weiten, von denen die Götter sich abgewandt haben, verwehen die Stürme und verlaufen sich die Winde im Sand â wie sonst nur Wellen, die an unberührten Stränden ersterben â, denn unbesiegbar ist allein der unabänderliche Lauf der Zeit. In groÃer Ferne, weit drauÃen, wo die Erde sich zu runden beginnt, hängt der Horizont reglos in der Luft, so matt und bleich, als hätte die Nacht ihn bis zum Morgen in Atem gehalten ⦠Auch ich habe eine schlaflose Nacht verbracht. In Schockstarre auf dem Rücksitz. Mit Schläfen, in denen der Widerhall des Schusses dröhnte. In mir nichts als die Wüste. Wie kann ich auch nur ansatzweise ruhig schlafen wollen, wenn ich es noch nicht einmal schaffe, mir klarzumachen, was ich da getan habe? Ich habe versucht, das Geschehen im Geist zu rekonstruieren, aber alles wurde nur immer verworrener. Wie ist Jomas Pistole in meine Hand geraten? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Mein Unterbewusstsein hat den Zeitraum
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